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In Momenten wie diesen fragte ich mich, ob es Travis wohl besser ginge, wo auch immer er nun war. Und ob es falsch war, dass ich mir wünschte, bei ihm zu sein. Ob ich dem Abgrund vielleicht näher war, als die anderen.

Ich zitterte vor Angst. Obwohl mir niemand etwas antun könnte, das mehr schmerzen würde, als die Dinge, die ich bereits erleben musste.

Mein Blick schweifte zu Nathan. Ich konnte sehen, dass es ihm einen Stich versetzte, mich so zu sehen. So hilflos. So klein. Er dachte nach, so wie er es immer tat. Plante seinen nächsten Schritt. Weil er jeden hier töten würde, wenn er müsste. Weil er das tun würde, um mich zu retten. Ich schmeckte Salz auf meinen Lippen. Schweiß, der mir die Stirn hinunterlief. Meine Hände drückte ich in den steinigen Boden, der schon meine Knie aufgeschlagen hatte. Ich senkte den Blick, als er das Wort an sich nahm.

»Na steht schon auf, wir wollen doch nicht, dass ihr eure Kleidung beschädigt.« Die plötzliche Freundlichkeit in seiner Stimme ließ mich zusammenzucken. Zögernd sah ich zu Nathan herüber, der ein Nicken andeutete. Ich erhob mich aus dem Dreck und richtete meinen Kopf um den Mann anzusehen. Er war von seinem Bambusthron herabgestiegen und lief nun wenige Zentimeter vor unseren Gesichtern auf und ab. Er war kleiner als ich. Aber seine Augen hielten mich davon ab, ihn in eine Kategorie einzuordnen. Er war anders als die Menschen, die ich kannte. Und wir alle waren ihm unterlegen.

»Wie wäre es, wenn wir uns bei einem ausgewogenen Frühstück etwas besser kennenlernen?«, fragte er mit einem Lächeln, das beinahe niedlich wirkte. Ger fand als erster seine Stimme wieder. »Wir haben es recht eilig«, sagte er und ließ den jungen Herrscher dabei nicht aus den Augen. Sein Lächeln erlisch nicht, wie ich es erwartet hätte. Er stellte sich vor mich hin und fuhr mit seinen Fingerspitzen über meine Wange. Ich zuckte unter seiner Bewegung zusammen und war nicht in der Lage, mich zu rühren. Aus dem Augenwinkel nahm ich wahr, wie Nathan sich anspannte. Als der Mann sein Gesicht meinem Ohr näherte, wollte Nathan zu mir kommen, doch stockte mitten in der Bewegung. Sein Arm war noch zu mir hingestreckt, aber er rührte sich nicht. Einzig seine Augen zeigten die Angst, die ihn ergriffen hatte. Ich wollte zurückweichen, doch auch mich hinderte etwas daran. Mit zitternder Unterlippe lauschte ich seinen folgenden Worten: »Wir sollten uns vielleicht wirklich unterhalten.«

»Wir haben es hier also mit einem Gezeichneten zutun«, meinte Ger und rieb sich seinen Dreitagebart. Ich malte mit meinen Fingern Linien und Kreise in den Dreck und zerstampfte sie mit den Füßen. »Er wirkt komisch«, sagte ich leise und drehte den Kopf, um sicherzugehen, dass uns niemand beobachtete. »Ja, aber wir sind alle komisch«, meinte Jules mit einem Schulterzucken. »Das haben Superhelden, die Uno mit nem Dämon spielen nunmal so an sich.« Ich verzog das Gesicht. »Du bezeichnest uns als Superhelden?« »Dich vielleicht nicht, aber wir anderen sehen doch schon verdammt super aus«, meinte Ger und präsentierte uns seine Muskeln. Ich schüttelte vehement den Kopf. »Können wir uns vielleicht mal auf unser millionstes Problem konzentrieren? Dieser Typ ist anders als wir. Er ist verrückt. Ich meine, er hat Spaß daran, diese Leute hier zum Narren zu halten und ist wahrscheinlich lebensmüde!« Mir fiel auf, wie laut ich geredet hatte und seufzte leise. Lebensmüde. Dieses Wort hallte durch meinen Kopf.

»Aber er hat überlebt«, sprach Nathan leise zu sich selbst. »Und momentan ist das alles, was ich mir wünsche.« Ihm entfuhr ein leises Seufzen. »Außerdem ist heute niemand gestorben«, meinte er. Ich fuchtelte mit den Armen in der Luft herum. »Das wäre ja auch noch schöner!«, zischte ich und atmete tief durch um mich zu beruhigen. »Ich habe einfach kein gutes Gefühl dabei, ihn mitzunehmen.« Jules nickte leicht. »Ja, das haben wir wohl alle nicht. Aber besser so, als dass er uns hier in einem großen Topf kocht.« Ich boxte Nathan wieder in die Seite, als er kicherte. »Das ist absolut nicht lustig! Er macht alles nur noch gefährlicher.

Er kann uns aufhalten. Unsere Kräfte stoppen.« »Aber er weiß nicht, dass du der Schlüssel bist. Er denkt, du gehörst zu den Gezeichneten und Travis dafür...« Ich nickte knapp. Immerhin. »Aber selbst wenn. Das ist genau eine Sache, in der wir ihm voraus sind. Er kennt sich hier aus, hat den Kampf mit dem Dämon selbst schon erlebt und jahrelange Erfahrung!« »Das sind nur weitere Gründe, um ihn mitzunehmen.« Ein leises Seufzen entfuhr meiner Kehle. Das würde unser Untergang sein. Mal ganz davon abgesehen, dass ich seine Anwesenheit allein schon nicht aushielt, weil er einfach ungemein nervig war. Drei wartende Augenpaare ruhten auf mir. Ich schnaubte gedanklich. Als sei ich es, die hier die Entscheidungen traf!

Zum letzten Mal zerstörte ich ein Bild, das ich in den Boden geritzt hatte und sprang voller Energie auf. »Ist ja gut. Dann sind wir jetzt halt eine Fünfergruppe, die die Welt retten will!«

Ich muss wohl nicht mehr erwähnen, dass ich ein schreckliches Gefühl hatte, als ich den Mann wiedersah. In meinen Gedanken nannte ich ihn gerne »der Mann«, weil es ihm an männlichen Gesichtszügen und Statur fehlte. Und einfach, weil er seinen richtigen Namen nur einmal erwähnt hatte und dies war irgendwas, das ich absolut nicht aussprechen konnte. »König« war nur eine weitere Bezeichnung, die vor Ironie nur so triefte. Er sah nicht aus wie ein König. Eher so wie ein kleiner Junge, der seine Zeit damit verbrachte, Comics zu lesen. Niemals wäre ich auf die Idee gekommen, solch einer Person die Herrschaft eines Dorfes zu überlassen.

Der König verließ also ohne Diener sein Königreich um auf eine wilde Jagd zu gehen. Die Jagd des Dämons, die er angeblich bereits auf sich genommen hatte. Ich traute ihm nicht. Er erzählte mehr Lügen als sonst irgendwas und war schrecklich selbstüberzeugt. Ich bezweifelte beispielsweise, dass er es war, der das Volk vor einem großen Bär gerettet hatte, indem er ihn mit bloßen Händen erlegt hatte. Ich bezweifelte, dass es hier überhaupt Bären gab.
»Elijah«, rief Ger, der wohl keine Probleme hatte, diesen komischen Namen auszusprechen. Eleisch... Ileisch...Ileischja... Ach, was solls.

»König«, meinte er mit erhobenem Kopf. »Es heißt König Elijah.« Ich verdrehte die Augen und lief an ihnen vorbei. König Elijah. Der uns alle vor dem Untergang bewahrte... Nicht auszudenken, was er tun würde, wenn er dem Dämon begegnete.

»Nein, nein, nein. Es waren keine zwölf bewaffneten Männer, denen ich alleine gegenüber stand. Zwölf ist eine lächerliche Zahl. Es waren vierundzwanzig! Vierundzwanzig ausgewachsene Männer, mit Speeren und Schwertern so scharf wie...« Ich legte ein Lied über meine Gedanken, das hoffentlich seine Worte von meinen Ohren fernhielt. Wie sollte ich es nur mit so einer Person aushalten?

Der Mann hatte uns durch das halbe Dorf geführt, bis wir endlich das Haus erreichten, zu dem er wollte. Eine heruntergekommene Garage, die mit einigen Tüchern als Schutz noch nicht regenfest genannt werden durfte. Ich nickte. Dieser Typ herrschte über ein armes Volk von Eingeborenen, die abgelegen vom Rest der Welt im Wald lebten. Was hatte ich erwartet? Ein Schloss aus Gold und Diamanten?

Stolz schob er das Gitter zur Seite und entblößte somit eine zusammengeflickte Patchworkdecke, die über etwas drüber lag. Ich konnte meinen Augen kaum glauben, als er uns das Auto zeigte. Wir hatten ein Auto! Damit würden wir locker einen ganzen Tag Fußmarsch sparen! Wie er uns stolz durch sein Dorf geführt und seine Leistungen beschrieben hatte, war es vielleicht doch niedlich. Wäre es niedlich gewesen. Wenn er nicht so unglaublich arrogant gewesen wäre.

»Das hier ist mein alter Henk. Er ist eigentlich nur für vier Personen gebaut, aber wir sind ja alle schmal.« Er lächelte fast schon süß, sodass ich ein schlechtes Gewissen bekam, so schlecht über ihn zu denken. Aber es verflog sofort wieder, als Ger über die verrostete Motorhaube fuhr und der Mann ihn mit einem hysterischen Kreischen auf die Finger schlug. »Nicht. Anfassen«, presste er hervor. Ger und ich wechselten einen Blick und hatten beide den gleichen Gedanken: Dieser Typ war definitiv nicht ganz richtig im Kopf.

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