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Ich saß auf den Treppenstufen, die zur Eingangstür des leerstehenden Krankenhauses führten und schob mit meinen Füßen den Dreck und die Steine auf dem Boden hin und her. Es war so unglaublich heiß, dass ich die Ärmel meines Oberteils so weit es ging hochgekrempelt hatte. Gedanken über mein Aussehen musste ich mir nach der vergangenen Nacht wahrscheinlich sowieso nicht mehr machen. Ich trug noch immer die Sachen, die ich auch beim Ritual angehabt hatte und der gestrige Regen hatte meine Haare verfilzt. Und dass ich nun hier saß, keine Ahnung wo, und darauf wartete, dass mich jemand abholte, ließ Erinnerungen in mir aufkeimen. An meinen ersten Schultag, zu dem ich von Maggys Mutter mitgenommen wurde, weil Mum von der letzten Nacht noch solch einen Kater gehabt hatte.

Sie hatte versprochen, mich abzuholen. Ich wartete eine Stunde und fünfundvierzig Minuten alleine auf dem Schulhof, bis ich mich entschied, den Weg zu laufen. Sie hatte es versprochen... Und ich hatte geglaubt, dass sie sich ändern würde. Dass sie nun, da ich als großes Mädchen in die Schule ging, vielleicht Verantwortung übernehmen würde. Stattdessen kam ich nach einer Stunde Fußmarsch Zuhause an und fand eine leere Wohnung vor. Niemand hatte mich abgeholt oder an mich gedacht. Und spätestens dort war für mich klar gewesen, dass ich nichts dagegen tun konnte, wie sie war. Dass sie sich niemals ändern würde. Dass sie niemals Verantwortung übernehmen würde und uns doch alles verbat, als würde das ihre Abwesenheit wieder gutmachen oder vor ihrem mütterlichen Gewissen rechtfertigen. Und dass sie nun so tat, als wäre sie die ultimative Vorzeigemutter, widerte mich an. Dass sie vor Richard so tat, als sei sie aus Liebe streng mit uns gewesen oder als hätten wir Familientraditionen, wie ein gemeinsames Abendessen, gehabt. Aber am schlimmsten war, dass Inga es vielleicht glauben würde, sich daran gewöhnen würde. Ich konnte ihr nicht antun, genauso verletzt zu werden, wie ich es wurde.

Ich blinzelte gegen die Sonne, als die Motorgeräusche zu mir durchdrangen. Ich beobachtete, wie Travis von seinem Motorrad stieg und den Helm auszog, achtlos an den Lenker hängte, sodass er direkt wieder runterfiel. Er betrachtete außer Atem und mit verzogenem Gesicht das Gebäude und das wuchernde Gelände drum herum. Beinahe panisch rannte er durch die verdorrte Hecke, schlug die trockenen Äste beiseite und trat das hohe Gras nieder. Er zog den Kopf ein, als er durch das menschengroße Loch im Maschendrahtzaun lief. Dabei beachtete er die zahlreichen Warnschilder und das verwitterte Absperrband nicht. Ich konnte seinen Blick nicht deuten, als er mich entdeckte und musterte. Vielleicht war es Erleichterung. Er kam langsamer auf mich zu und beäugte mich dabei, als sei mein Überleben ein einziges Wunder.

»Lissa«, sagte er nur, suchte scheinbar nach Worten. Ich wollte ihm nichts erzählen, mich nicht wieder an all die Tatsachen erinnern, an all das, was mir angetan wurde, an das ich mich nicht erinnern konnte. Ich wollte es nicht vergessen, aber ich wollte es auch nicht genauer überdenken, wie ich es immer so gerne mit allem machte.

»Travis«, antwortete ich ihm mit gespielter Verwunderung. Er blinzelte mehrmals. »Gottseidank geht es dir gut«, murmelte er. Es sah aus, als wollte er mich umarmen. Ich lächelte leicht und lief an ihm vorbei. »Wo bin ich?«, fragte ich ohne stehenzubleiben. Dass er noch vor dem Eingang stand, bemerkte ich erst kurz darauf. Langsam drehte ich mich um. »Was tust du da?«, fragte ich und schulterte meine Tasche. »Ich werde diesen Kerl...«, meinte er eher zu sich selbst. Sofort war ich bei ihm und stellte mich zwischen ihn und die Tür. »Das wirst du nicht«, erklärte ich vorsichtig. Verwirrt sah er zu mir runter. »Du wirst ihn in Ruhe lassen. Er kann uns vielleicht helfen.« »Was redest du da? Dieser Kerl hat wer weiß was mit dir angestellt!« Er gestikulierte mit den Armen. »Ich weiß, was er getan hat und er hatte einen Grund. Ich werde dir alles später erzählen«, versprach ich und hielt beschwichtigend die Hände vor mich. Ich glaubte meine Worte selbst nicht.

»Lass uns bitte einfach gehen«, fügte ich hinzu. Er zögerte. »Travis«, sagte ich warnend. »Was ist nur los mit dir?«, fragte er laut. »Was bist du für ein Mensch, dass dich so vieles einfach kalt lässt?« Perplex sah ich ihn an, ließ meine Hände sinken. »Was ich für ein Mensch bin?«, fragte ich ihn leise. »Was seid ihr für Menschen, dass ihr alles für solche Scheiß Kräfte aufgebt und nicht mal mit den Konsequenzen leben könnt?«, blaffte ich ihn schreiend an. »Was hat man dir angetan?«, schrie er zurück. »Er will mir helfen!«, brüllte ich und Tränen stiegen in meine Augen. Alles war still um uns herum, Travis wagte es nicht mal zu atmen. »Bitte«, sagte ich leise, fast schon flehend. »Bring mich hier weg.«

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