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Langsam realisierte ich, dass sich unsere Umgebung verändert hatte. Der trockene Boden war einer beinahe matschigen Pampe gewichen und das Grün der Pflanzen um uns herum hatte sich verdunkelt. Und obwohl die Sonne ihren höchsten Punkt erreicht hatte, herrschte eine Kälte über diesen Ort, die nicht logisch zu erklären war. Dieser Teil des Dschungels hatte etwas Grausames an sich. Das fiel mir in dem Moment auf, in dem ich verstand, dass wir uns auf dem Friedhof aller Gezeichneten befanden, die den Kampf gegen den Dämon der Gewitterstürme verloren hatten. Und es waren nicht wenige Holzkreuze, die in diesen Boden gerammt waren. Überall lagen beschriftete Steine und zusammengebundene Stöcke. Jeder von ihnen kennzeichnete ein Skelett, das sich unter unseren Füßen befand. Und bei dem Bild, das sich durch diesen Gedanken in meinem Kopf malte, zog sich alles in mir zusammen.

~

Meine verdreckte Hand fuhr über meine Stirn, um den Schweißfilm abzureiben, der sich dort gebildet hatte. Meine Arme und Beine litten Höllenqualen und waren in den letzten Stunden wohl mehr beansprucht worden, als in meinem ganzen Leben. Über mir hing Ger in der Luft und versuchte mir immer wieder neuen Mut zu machen. Nathan unterhielt sich mit dem König und ich versuchte verzweifelt, Jules von der Höhe abzulenken, in der wir uns inzwischen befanden.

»Dir kann nichts passieren«, versuchte ich es weiter und wechselte einen Blick mit Nathan, der mich unterstützen sollte. Aber er wandte sich wieder Elijah zu und schlug seinen komischen Haken in den Fels. »Du bist mit uns allen über dieses Seil verbunden.« Jules klammerte seine Hände an die Steine, in der Wand. »Wenn Ger fällt, fallen wir alle«, rief er fast schon hysterisch zu mir hoch. Ich unterdrückte ein Augenrollen nur schwer.

»Selbst wenn du fällst: sterben wirst du wahrscheinlich nicht.« Ich schlug Ger mit meinem Hakendingsda und er lachte leise. »Nicht-hilfreich«, presste Jules durch zusammengebissene Kiefer hervor. Ich seufzte.

»Kletter einfach weiter, es ist nicht mehr weit.«

Ich wagte es, meinen Blick auf das Treiben unter mir zu richten. Augenblicklich drehte ich meinen Kopf wieder zur Felswand und versuchte mich zu beruhigen. Ich hatte normalerweise kein Problem, mit Höhen. Aber dies hier war etwas komplett anderes. Ich konnte nur noch schwer erkennen, was sich da alles unter mir befand. Das einzige, was mir ins Auge stach, war das verrostete Rot von Elijah Wagen, das sich von all dem Grün des Waldes abhob. Links von mir konnte ich einen Strand in der Ferne sehen. Und wenn man diesen mehrere Stunden entlangfahren würde, dann würde man bei Maja auskommen. Allerdings würde dies wieder mindestens einen Tag dauern. Ich kletterte weiter hinauf und beschleunigte damit auch Jules, der sich nun an Nathan heftete. Bei Ger, der uns alle durch Seile an seinem Gürtel befestigt hatte, stoppte ich.

»Es wird mindestens einer von uns sterben«, stellte ich fest, als ich neben ihm angelangt war. Er sah sich um, die anderen hörten uns nicht. Er nickte. »Was glaubst du, wer es ist?«, fragte ich und stellte meinen Fuß in eine Einkerbung. »Dazu sage ich nichts. Es könnte jeden von uns treffen«, aber sein Bick verriet mir seine Gedanken. »Er hat nicht mal das Klettern überstanden«, flüsterte Ger leise und ich nickte. Mit einem Mal erfasste mich ein unglaubliches Schwindelgefühl. Ich hielt an und klammerte mich an den Steinen. Ger stockte. »Ist alles ok?« Ich wollte nicken, aber mit jeder Sekunde schwand meine Kraft. Alles um mich herum drehte sich. Die Motive verschwammen zu Farbgemischen. Ich schloss die Augen und blendete alles aus. Es schien so verlockend, sich dieser Ruhe hinzugeben. Ich hatte keine Lust mehr, zu klettern. Aber noch weniger Lust hatte ich, hier die Klippe hinunterzustürzen. Mein Atem wurde schwächer. Ich spürte, wie ich selbst kreiste. Wie Ger näher zu mir kam um mich zu stützen. Wie groß die Last war, die meine Arme halten mussten. Und wie meine Beine plötzlich zusammenknickten und ich fiel. Ich schrie nicht. Aber ich hatte die Augen aufgerissen. Ich sah zu, wie sie schrien. Wie geschockt sie aussahen. Wie viel Angst Nathan hatte. Angst um mich.

Die Rufe der Jungs wurden als Welle zu mir getragen. Sie waren gedämpft, als seien sie unwichtig. Als sei alles unwichtig, außer die Dunkelheit. Ich wurde vollkommen ruhig und schloss wieder meine Augen. Achtete nicht auf das zerrende Gefühl um meine Hüfte, bei dessen Schmerzen ich hätte aufschreien sollen. Ich war gesichert. Ich würde nicht fallen. Sobald ich die Gedanken vor mich hin geflüstert hatte, prallte mein Körper mit voller Wucht gegen die Felswand. Ich versuchte, meine Arme schützend vor meinen Kopf zu halten, doch sie wurden durch die immense Kraft, die Ger aufbrachte, wie vertrocknete Blätter zerdrückt. Das Geräusch war widerwertig. Und es war das letzte, was ich hörte. Denn beim nächsten Aufprall, legte sich ein schrecklich hoher Piepton über meine Gedanken. Ich musste die Augen geschlossen halten. Die Schmerzen waren kaum auszuhalten.

Ich spürte, wie mein ganzer Körper durch ruckartige Bewegungen, geschüttelt wurde. Wie das Seil um meine Hüfte, in mein Fleisch schnitt und Brandblasen hinterließ. Bei jedem Stocken wurde ich gegen die Wand geschleudert. Jedes Mal konnte ich spüren, wie ein weiterer Teil meines Körpers versagte. Wie ich eine rote Linie aus Blut auf dem grauen Stein hinterließ. Dass die Wunden Narben hinterlassen würden, die mich an diese Zeit erinnerten. Weil ich sie nicht vergessen würde. Niemals. Es hatte mein Leben verändert. Und vielleicht wird es der Grund meines Todes sein. Als wollte der Dämon zeigen, dass dies sein Werk war, konnte ich förmlich sehen, wie sich der Himmel zusammenzog. Und als ich das nächste Mal gegen die Wand fiel, wagte ich es, die Augen zu öffnen. Alles war milchig. Wie ein Sack voll Mehl hing ich hier und wurde wieder nach oben gezogen. Ob ich den weiten Weg überleben würde? Ob Ger es schaffen würde, mich bis nach oben zu ziehen? Oder ob sie alle ihre Kräfte nutzen würden, obwohl wir dann spätestens diese Nacht sterben würden?

Es war egal. Der Effekt war der Gleiche.
Entweder, wir starben jetzt, oder diese Nacht.

Es war das letzte, was ich dachte, bevor er auf mich zu hechtete. Bevor ich in diese wunderschönen Mondsichelaugen sah, und mich jedes Mal aufs Neue verliebte.

Der Grund meines Aufwachens waren keine letzten Sonnenstrahlen, die mich kitzelten. Es war eine eiskalte Hand an meinem Bauch, durch die ich hochschnellte wie ein Gummi. Sofort schmerzte mein Kopf und meine Hände schnellten an meine Stirn. Als ich die Augen öffnete, lächelte Nathan mich an. Es war ein trauriges, aber gespielt hoffnungsvolles Lächeln. Langsam legte ich mich wieder hin. Für den Bruchteil einer Sekunde, hatte ich daran geglaubt, dass ich Zuhause in meinem Bett liegen würde. Dass das alles nur ein schrecklicher Albtraum war. Aber stattdessen befand ich mich auf dem kalten Steinboden einer Höhle und konnte im Hintergrund den Dschungel aus einer atemberaubend hohen Perspektive erkennen. Ich seufzte leise, als Nathan mich auf die Stirn küsste und die Decke richtete, in die ich eingehüllt war. Es war bitter kalt hier oben und ich musste grinsen, bei dem Anblick von Nathan mit blau-roter Mütze. Seine blond-braunen Haare schauten an den Seiten heraus und irgendwie erinnerte er mich an einen Weihnachtselfen. Jules Ohrenschützer brachten das Ganze aber noch auf ein anderes Level.

Ich fühlte mich nicht mehr so schwach. Ich lebte, das war gut. Ein gutes Gefühl. Und ich konnte mich bewegen. Meine Arme waren nicht gebrochen, nicht viele Wunden zu sehen. Mein Blick wanderte zu Nathan. »Du hast«, sagte ich leise und er nickte schnell. »Es geht mir gut«, meinte er. Ich ließ die Schultern hängen. Das würde alles auf den Kopf werfen. Wenn er nicht bei Kräften war, wenn der Kampf begann, dann konnten wir nur verlieren. »Wir pushen unseren Lieben Nathan«, meinte Ger und klopfte Nathan auf die Schulter. Die dunkelblaue Winterjacke stand ihm verboten gut und ich beneidete ihn um seine Stiefel. Nathan hingegen trug einen gepunkteten Pulli und eine glänzende Schneehose.

Ich lachte leise auf. Nathan legte den Kopf schief und sah mich durch zusammengekniffene Augen an. Dann sprang er plötzlich auf mich und kitzelte mich. Er stockte erst, als ich mich zu ihm hochbeugte und ihn küsste. Die Rufe von Ger ignorierte ich, so gut es ging, musste jedoch trotzdem lächeln. Trotz allem ging es mir gut. Ich hatte Spaß. War glücklich. Ich hatte gute neue Freunde gefunden. Eine Gruppe, die man nur durch den Tod auseinander reißen könnte. Und manchmal waren Nathan und ich wie ein ganz normales Pärchen. Nicht oft, aber oft genug. Und als ich meinen Kopf auf seinen Bauch legte und an die feuchte Decke der Höhle starrte, fragte ich mich, ob ich so mein Glück definieren konnte. Ob es egal war, was ich alles hätte erreichen können, wenn ich andere Wege gegangen wäre. Weil es perfekt war, so wie es jetzt war.

Weil ich gelernt hatte, das Gewitter wertzuschätzen, das sich nun durch Donnergrölen bemerkbar machte und uns alle zusammenzucken ließ. Ein Blick genügte um die Angst, die wir hatten zu beschreiben. Angst vor Dingen, die weitaus schlimmer waren, als beinahe von einer Klippe zu stürzen.


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