Am nächsten Tag brachen Ohitika, Thokala-gleschka und ich vor Sonnenaufgang auf. Da uns so wenige Mustangs geblieben waren, hatten wir nur ein Packpferd dabei und gingen zu Fuß. Ich trauerte meiner Stute Patches und Ohitikas Schecken nach, die die Langmesser uns gestohlen hatten. „Wir werden bald neue Pferde suchen", hatte Ohitika getröstet. Aber erst einmal hatten wir eine Mission zu erfüllen: den bärtigen Tom finden. Thokala führte uns an und ich war froh, dass ich ihn vor mir und damit im Blick hatte und nicht in meinem Rücken. Es war vielleicht paranoid, aber seit unserer allerersten unglücklichen Begegnung bei meiner versuchten Flucht traute ich ihm nicht über den Weg.
Um uns herum erwachte soeben der Bergwald. Der Duft, der in der Luft lag, versprach einen weiteren warmen Spätsommertag. Meine Augen klammerten sich an all das, was es zu sehen gab: jeden krabbelnden Käfer, jeden Vogel, der aus dem Geäst über unseren Köpfen aufflog, die auf dem Boden tanzenden Sonnenflecken ... Es erweckte in mir ein Gefühl der Normalität. Die Natur und die Waldbewohner waren immer noch da; hier hatte sich nichts verändert.
„Wie weit ist es bis zur Blockhütte von Tom?", fragte ich Ohitika, der hinter mir lief und den braun-weiß gescheckten Mustang führte, der mit unserem Proviant, einigen Fellen und Pelzen zum Handeln und dem sorgsam in Decken gewickelte Mazzawakan bepackt war.
„Etwa zwei Tagesmärsche."
Das bedeutete, eine Nacht in der Gesellschaft von Thokala-gleschka im Bergwald zu verbringen. Ich konnte mir wirklich Schöneres vorstellen. Als hätte er meine Gedanken gehört, wandte er sich um und starrte mich über seine Schulter hinweg an. Ich hielt seinem Blick stand. Von ihm würde ich mich nicht einschüchtern lassen. Sein breitknochiges Gesicht verzog sich zu der für ihn typischen Miene von leicht überheblicher Abscheu. Dann drehte er sich wieder nach vorn und ich atmete erleichtert aus.
Wir waren leise und immer auf der Hut. Die Waschitschu konnten hier überall noch herumlaufen, obwohl die Späher gemeldet hatten, dass ihr Trupp gen Westen weitergezogen war. Gegen Mittag pausierten wir an einem Bach und ließen das Pferd grasen und trinken. Ohitika kniete sich an einer Uferstelle nieder und winkte mir zu. Als ich mich neben ihn hockte, deutete er in das kristallklare Flusswasser hinein, das hier ruhig in einem natürlichen, tieferen Becken lag. Darin schimmerte der gefleckte Rücken einer großen Forelle, die so still verharrte, dass ihre Färbung beinahe mit den Kieseln am Grund verschmolz.
Mit einer blitzschnellen, entschlossenen Bewegung packte Ohitika ins Wasser und zog seinen Arm wieder heraus, und bevor ich überhaupt begriff, was geschehen war, zappelte die Forelle bereits auf dem Ufersand.
Wir bereiteten den Fisch über einem kleinen Feuer zu. Er war groß genug, um für uns drei als Mahlzeit zu dienen, doch Thokala-gleschka verschmähte seinen Anteil. Mit herabgezogenen Mundwinkeln und verschränkten Armen stand er in der Nähe des Mustangs und knabberte an einem der getrockneten Büffelfleischstreifen, die wir mitgenommen hatten.
Ohitika zuckte mit den Schultern und zwinkerte mir zu, als wollte er sagen: mehr für uns. Ich schüttelte leicht den Kopf über Thokalas Verhalten. Ich verstand diesen Mann einfach nicht. Als er sich ein wenig entfernte und außer Hörweite war, fragte ich Ohitika leise: „Warum hasst er mich so?"
Ohitika neigte den Kopf und ließ den Fisch sinken, den er gerade zum Mund heben wollte. „Nicht dich, Ite-ska-wih. Mich hasst er. Das geht auf unsere Jugendzeit zurück. Wir waren schon immer Konkurrenten. Aus irgendeinem Grund war er entschlossen, mich in allem zu übertrumpfen. Und jedes Mal, wenn er es nicht schaffte, wuchs seine Bitterkeit."
Mit den Zähnen löste er einen Teil des weißlichen Fleischs von den Gräten und kaute nachdenklich. „Schon unsere Väter konnten sich nicht ausstehen", verriet er.
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Plötzlich Indianer - Teil 2
Historical FictionMarie hat ihr Glück bei den Lakota an der Seite von Ohitika gefunden. Doch das Schicksal hat andere Pläne: Ein dramatisches Ereignis erschüttert ihre Welt und zwingt sie zu einer gefährlichen Reise. Gemeinsam mit Ohitika und dessen Rivalen Thokala b...