Auf dem Weg entlang der Straße sprachen wir nur wenig. Ich nahm an, dass Ohitika und Thokala-gleschka noch immer verarbeiten mussten, was ich ihnen gerade erzählt hatte. Ich ging voran und folgte der Straße, die sich in großen Serpentinen den Berg hinabschlängelte und allmählich in die hügelige Prärie überging. Eine Unmenge von Fragen plagten mich. Wohin sollten wir uns wenden? Sollte ich die beiden lieber so weit wie möglich von der modernen Welt fernhalten und mich mit ihnen im Bergwald verstecken? Aber wir hatten nichts bei uns, außer die Kleider an unserem Leib (und das war bei ihnen nicht viele!) und unsere Messer als Waffe und Werkzeug. Doch damit konnte man nicht gut jagen und ohne Sehnen konnten wir keinen Pfeil und Bogen herstellen, jedenfalls nicht in so kurzer Zeit ... Nein, wir brauchten Geld, um uns wenigstens etwas zu essen kaufen zu können - und Kleidung, in der wir nicht mehr so auffällig wären.
Ein Schild an einer Kreuzung zeigte die Richtung zum Mount Rushmore National Memorial an. Ich zögerte kurz, als eine Flut von Erinnerungen über mich hereinbrach ... wie ich mit Sarah vor den großen Präsidentenköpfen gestanden und dem Vortrag unserer Lehrerin, Frau Bühner, gelauscht hatte ... Hannes, der immer alle Antworten gewusst hatte ... dann die Besichtigung der Höhle ... Für einen Moment war ich versucht, dem Wegweiser zu folgen, doch was würde das schon bringen? Hoffte ich etwa, mich selbst oder Sarah ausgerechnet jetzt dort anzutreffen?
Ich schüttelte den Kopf und wandte mich in die andere Richtung, die laut Straßenschild nach Rapid City führte. Das kannte ich wenigstens von meinem kurzen Aufenthalt mit meinem Englischkurs. Je näher wir den besiedelten Gebieten kamen, desto mehr Häuser tauchten neben der Straße auf, Farmen und Ranches, vielleicht auch ein paar Ferienhäuser, denn dies war ein beliebtes Touristenziel. Wie es für Amerika typisch war, befanden sich die Briefkästen am Straßenrand. Bei einigen waren die roten Fähnchen nach oben geklappt, was bedeutete, dass der Postbote bereits da gewesen war, die Anwohner ihre Post aber noch nicht abgeholt hatten.
Als wir an einem der silbernen Metallkästen vorbeiliefen, fiel mir das Ende einer zusammengerollten Zeitung auf, das unten herausschaute. Ich blickte in Richtung des Hauses am Ende des langen Zufahrtsweges. Dort standen keine Autos, die Bewohner schienen nicht zu Hause zu sein. Schnell zog ich die Zeitung aus dem Briefkasten.
„Was ist das?", fragte Ohitika.
Ich faltete die Zeitung auf und zeigte sie ihm und Thokala-gleschka. „Darin halten die Waschitschu die wichtigsten Ereignisse fest, damit alle davon erfahren. Ähnlich wie die Winterchroniken auf Büffelhautdecken, mit denen die Lakota die Geschichte ihres Stammes aufzeichnen."
Ich suchte mit den Augen nach dem Datum auf der Zeitung und stockte kurz, als ich es fand. Es war das gleiche Jahr, in dem ich in die Vergangenheit gereist war. Aber der verhängnisvolle Schulausflug nach South Dakota würde erst in zehn Tagen stattfinden. Das musste ja bedeuten, dass ich in dieser Zeit zweimal existierte. Genau jetzt, in diesem Moment, gab es einen Kontinent von hier entfernt eine weitere Marie, eine, die noch keine Ahnung hatte, was ihr bevorstand. Es war unvorstellbar.
Ich steckte die Zeitung zurück in den Briefkasten und lief weiter, verwirrt und tief in Gedanken versunken. Sollte ich versuchen, mein Ebenbild zu kontaktieren, sie zu warnen, dass sie nicht in diese Höhle gehen sollte ... Mein Blick fiel auf Ohitika, der zu mir aufschloss. Nein, auf keinen Fall konnte ich das tun! Dann würde ich Ohitika ja nie kennenlernen. Aber meine Eltern würden mich auch nicht verlieren ... Es war zum Verrücktwerden mit diesen Zeitreisen!
Ohitikas Frage riss mich aus meinen Gedanken. „Wohin gehen wir?"
„Zu einer Siedlung der Weißen", erwiderte ich abgelenkt. „Wir brauchen Essen, Kleidung, und so etwas."
„Und du denkst, dass wir das dort bekommen?" Er wirkte noch immer angespannt und distanziert, aber ich war froh, dass er überhaupt mit mir sprach.
„Eher als hier in den Bergen. Allerdings brauchen wir Geld - das ist so etwas wie Gold - oder irgendein anderes Tauschmittel. Vielleicht finde ich eine Arbeit ..." Ich schielte vorsichtig zu Ohitika, der die Brauen zusammengezogen hatte und mich nicht anschaute. Ich ertrug den Gedanken nicht, dass er böse auf mich war oder mich sogar verachtete.
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Plötzlich Indianer - Teil 2
Ficção HistóricaMarie hat ihr Glück bei den Lakota an der Seite von Ohitika gefunden. Doch das Schicksal hat andere Pläne: Ein dramatisches Ereignis erschüttert ihre Welt und zwingt sie zu einer gefährlichen Reise. Gemeinsam mit Ohitika und dessen Rivalen Thokala b...