Ich stolperte den Berg hinauf. Tränen ließen meine Sicht verschwimmen. So sehr ich sie auch zurückdrängen wollte, es sprudelten immer neue hervor. Mein Verstand weigerte sich noch immer, das eben Geschehene zu akzeptieren. Es durfte einfach nicht wahr sein! Sie lebte noch. So wie Ohitika damals. Er hatte auch überlebt!
Dennoch lauerte in meinem Bauch ein Strudel der Angst und Verzweiflung, der nur darauf wartete, dass ich endlich nachgab und mich hineinziehen ließ. Ich wehrte mich dagegen. Mit Zähnen und Klauen krallte ich mich an dem winzigen Stück Hoffnung fest, das ich noch hatte: Tatanka Wakon konnte ihr vielleicht helfen.
Aber wo waren er und die anderen? Wie sollte ich sie finden? Ich schniefte und wischte mir mit dem Ärmel über das Gesicht.
„Warte!", rief eine Stimme hinter mir.
Ich wirbelte herum. Diese Stimme würde ich überall erkennen.
Ohitika kam mit langen Sätzen den Hang hinauf. Ein erstickter Laut drang aus meiner Kehle. Ich ließ das Gewehr ins Moos fallen und rannte ihm die wenigen Meter entgegen, die uns noch trennten.
Als wir uns trafen, prallte ich so fest mit ihm zusammen, dass er nach hinten stolperte. Ich klammerte mich an ihn wie eine Ertrinkende an den Baumstamm, vergrub mein Gesicht an seiner Schulter und biss die Zähne fest aufeinander, um nicht die Beherrschung zu verlieren.
Er lebte! Doch ich konnte die Erleichterung und Freude darüber nicht spüren.
Ich kannte die Antwort.
Ich musste ihm von seiner Schwester berichten. Aber noch nicht - noch wollte ich ein klein wenig länger von seinen Armen gehalten werden und so tun, als wäre alles in Ordnung.
Ohitika löste sich viel zu schnell von mir und sah mich an. Seine Brauen zogen sich sorgenvoll zusammen. „Ite-ska-wih, geht es dir gut?"
Ich atmete zitternd ein. „Ja. Und dir?" Ich ließ meinen Blick rasch über seinen Körper wandern. Er schien unverletzt. Gott sei dank. Nur ein paar Kratzer, wo er vermutlich durchs Unterholz geschlichen war.
Ohitika nickte, doch seine Miene blieb ernst. „Was machst du hier mitten im Wald? Wo sind Tatanka Wakon und die anderen?"
„Wir haben sie verloren. Ich war gerade auf der Suche nach ihnen."
„Woher hast du das Mazzawakan?", fragte er weiter.
Ach ja, das Gewehr! „Einem Pawnee-Späher abgenommen", sagte ich und wandte mich um, um es aufzuheben. Ich drückte es ihm in die Hand, froh, das Ding los zu sein.
Seine Augen weiteten sich leicht, doch er ging nicht weiter darauf ein. „Wihinapa?", fragte er stattdessen.
Wihinapa. Dieses eine Wort stürzte mich zurück in die harte Wirklichkeit. Jetzt konnte ich die Schluchzer nicht mehr zurückhalten, die sich schon die ganze Zeit einen Weg nach draußen bahnen wollten. „Komm mit", brachte ich erstickt hervor. Ich ergriff seine Hand und zog ihn wieder hangabwärts in die Richtung, aus der ich gekommen war.
Ohitika fragte nichts, aber ein Seitenblick auf sein Gesicht zeigte mir, dass er das Schlimmste befürchtete. Er wirkte totenbleich im Halbschatten des Waldes.
Je näher wir kamen, desto bleierner fühlten sich meine Füße an. Sie wollten nicht mehr weitergehen und ich musste mich zu jedem Schritt überwinden. Übelkeit stieg in mir empor.
„Da." Ich deutete auf den Felsbrocken.
Ohitika ließ meine Hand los und stürmte die letzten Meter den Hang hinab. Ich wusste, er würde zu spät kommen.
Er bog das Gestrüpp zur Seite und ich hörte, wie er ein unterdrücktes Stöhnen von sich gab. Gleich darauf war ich neben ihm und zwang mich dazu, Wihinapas leblose Form anzuschauen. Sie lag noch immer genauso da, wie ich sie verlassen hatte, zusammengerollt auf der Seite, die Augen geschlossen, beinahe friedlich. Ohitika suchte ihren Puls am Hals und entdeckte dann das viele getrocknete Blut auf ihrer Kleidung.
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Plötzlich Indianer - Teil 2
Historical FictionMarie hat ihr Glück bei den Lakota an der Seite von Ohitika gefunden. Doch das Schicksal hat andere Pläne: Ein dramatisches Ereignis erschüttert ihre Welt und zwingt sie zu einer gefährlichen Reise. Gemeinsam mit Ohitika und dessen Rivalen Thokala b...