Ein ohrenbetäubendes Brummen erfüllte meine ganze Wahrnehmung. Es schwoll ab und an und schien an mir vorbeizubrausen, immer und immer wieder. Das Geräusch erinnerte mich an irgendetwas. Ich hatte es schon lange nicht mehr gehört ... Autos? Aber das konnte doch nicht sein!
Mit einem Ruck öffnete ich die Augen. Über mir schimmerte blauer Himmel und meine Hände ertasteten weichen Waldboden. Alles wie gewohnt, und doch war da dieser Lärm, der von überallher und nirgends zu kommen schien. Ich drehte vorsichtig meinen Kopf. Links von mir stieg der Berghang steil an, Kiefern und Sträucher kletterten daran empor. Rechts von mir sah ich durch die Zweige einiger Büsche hindurch verschwommene farbige Blitze vorbeiziehen, so schnell, dass ich sie kaum mit den Augen verfolgen konnte. Ich blinzelte mehrmals und hoffte jedes Mal, wenn ich meine Augen wieder aufmachte, dass sie weg wären. Doch das nicht abreißende Motorengeräusch belehrte mich eines besseren. Was machte eine Schnellstraße mitten in den Schwarzen Bergen?
Langsam begann mein Verstand wieder zu arbeiten. Meine letzte Erinnerung stieg empor ... das Gewitter in der Höhle ... die Blitze, die funkelnden Kristalle ... Oh, warum hatte ich sie angefasst? Hatte ich denn nichts dazugelernt? Und wo war Ohitika?
Ich setzte mich auf, obwohl mein ganzer Körper schmerzte, als wäre ich gerade den ganzen Berghang hinabgerollt. Trotz der angenehm kühlen Luft brach ich in Schweiß aus. Ich wollte nicht wahrhaben, was passiert war. Es durfte nicht sein. Ich durfte ihn nicht verlieren!
„Ite-ska-wih...?", hörte ich eine schwache Stimme hinter mir, deren Worte fast von dem Motorenlärm verschluckt wurden. Doch ich erkannte diese Stimme sofort.Alle Schmerzen vergessend stemmte ich mich hoch und eilte zu Ohitika, der nur wenige Meter entfernt von mir am Boden lag und auch eben erst erwacht zu sein schien. Ich warf mich in seine Arme und presste kurz mein Gesicht an seine nackte Brust, um das Schlagen seines Herzens zu spüren.
Er war real. Er war bei mir.
Aber die Freude über diese Erkenntnis wurde schlagartig wieder getrübt, als mir bewusst wurde, wo wir uns befinden mussten ... oder besser gesagt, wann.
Ohitika stützte sich auf die Ellbogen und sah sich benommen um. „Wo sind wir? Was ist das für ein Lärm?" Seine Hand tastete nach dem Messer an seinem Gürtel.
Bevor ich antworten konnte, ließ ein lautes Hupgeräusch mich zusammenzucken. Ohitika sprang alarmiert auf, jetzt vollkommen wach. Mit dem Messer in der Hand blickte er sich nach der unbekannten Gefahr um. Das Hupen hielt an, Bremsen quietschten und ich hörte ein heiseres Schreien von der anderen Seite der Straße. Ich wirbelte herum.
Mein Herz stockte. Thokala-gleschka war mitten auf die Fahrbahn gelaufen. Auch er hatte sein Messer gezogen, als wollte er sich damit den entgegenkommenden Autos in den Weg stellen, die bremsten und um ihn herum schlingerten, nur knapp an dem Abhang auf der anderen Straßenseite vorbei. Für einen kurzen Moment wurde mir die Absurdität der Szene bewusst - ein halbnackter junger Mann mit Lendenschurz und wildem Blick, der mit einem Messer vor den Autos herumfuchtelte ... Die Fahrer mussten den Schreck ihres Lebens bekommen.
„Weg da", schrie ich, war mir aber nicht sicher, ob er uns überhaupt bemerkt hatte.
Ohitika wollte zu ihm rennen, vielleicht um ihm zu helfen, doch ich hielt ihn zurück. „Bleib hier", sagte ich bestimmt. Hier war ich diejenige, die sich auskannte.
Dann huschte ich zwischen zwei Autos hindurch, die ihr Tempo verlangsamt hatten, wohl um das skurrile Schauspiel zu beobachten, und packte Thokala am Arm. Beinahe wäre er mit dem Messer auf mich losgegangen. Vielleicht dachte er, ich wäre eine Raubkatze, die ihn von hinten angefallen hatte. Doch dann klärte sich sein Blick ein wenig, als er mich erkannte, und er ließ sich, beinahe willenlos, von mir von der Straße ziehen, während ich den Fahrern entschuldigend zuwinkte.
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Plötzlich Indianer - Teil 2
Historical FictionMarie hat ihr Glück bei den Lakota an der Seite von Ohitika gefunden. Doch das Schicksal hat andere Pläne: Ein dramatisches Ereignis erschüttert ihre Welt und zwingt sie zu einer gefährlichen Reise. Gemeinsam mit Ohitika und dessen Rivalen Thokala b...