Ich muss tief ein und ausatmen, als ich das Mädchen anschaue. Sie ist wunderschön. Eigentlich habe ich immer gedacht, dass ich hübsch bin, doch neben ihr komme ich mir wirklich hässlich vor. Sie ist doch gerade einmal dreizehn, wie kann sie so erwachsen aussehen? Mit ihren blonden Locken und blauen Augen wirkt sie wirklich wie ein Engel, obwohl ich nicht einmal weiß, ob es weibliche Engel gibt. Doch trotz ihrer Schönheit umgibt sie eine Aura, die so hässlich ist, dass ich sie nicht mögen kann. Außerdem ist ihr Grinsen ein wenig zu groß, als dass es echt sein könnte. „Halli-Hallöchen, ich bin Pallisander!" Ihre Stimme ist genauso wunderschön wie ihr Aussehen und ich weiß sofort, dass sie eine Sirene ist. Meist entwickeln Sirenen ihre Gabe erst im Alter von achtzehn, doch Pallisander scheint eine Ausnahme zu sein. Mich zieht sie aber nicht in ihren Bann, denn ich kann ihre Aura sehen, die alles zerstört. Wenn man die kotzorange Farbe sieht, von der sie umgeben ist, kann man sie nicht mehr schön finden. Es geht einfach nicht. Und zum ersten Mal bin ich wirklich dankbar, diese Gabe zu haben. „Komm, gehen wir", einfach so zieht sie mich mit sich, ich wehre mich nicht einmal. In meinem Zimmer reißt sie meinen Kleiderschrank auf und beurteilt jedes Kleid, plappert dabei ohne Punkt und Komma. Sie erzählt mir, wie schön sie es findet, dass ich jetzt ihre Schwester bin. Dabei habe ich mich noch nicht einmal entschieden. Und bin mich nicht einmal mehr so sicher, wen ich wählen soll.
Und vier Stunden später liege ich völlig am Ende in meinem Bett. Dieses Mädchen ist ein ganz anderes Level, sogar noch anders als meine Modeberaterin. Und das will etwas heißen, denn bis vor kurzem habe ich gedacht, es gebe keinen schrecklicheren Menschen als sie. Pallisander toppt das noch um eine Stufen. Obwohl ich eigentlich keine Kraft mehr habe, packe ich meine Schreibsachen aus und schreibe Lyriam einen Brief, indem ich ihm nur erzähle, wie komisch die Umstände sind und das Pallisander schlimmer als alle anderen ist. Ich frage ihn auch, wie es ihm geht, da ich genau weiß, dass er wohl Schwierigkeiten hat, sich an dieses Leben anzupassen, so wie ich es gehabt habe. Und der Gedanke, dass mein kleiner Bruder, auch wenn er nur ein wenig jünger als ich ist, gerade ein paar Schwierigkeiten hat, schmerzt. Außerdem schmerzt es, dass er nicht an meiner Seite ist. Wir sind zum ersten Mal seit unserer Geburt getrennt. Und noch nie hat etwas so sehr wehgetan. Es ist ein wenig, als würde ein Teil von mir fehlen. Denn ohne Lyriam bin ich einfach nicht vollständig, ich weiß nicht einmal, wie genau ich das beschreiben kann. Damit er sich vorstellen kann, wie alle aussehen, fertige ich Skizzen an, an denen ich bis spät in die Nacht sitze.
Dementsprechend wache ich am Morgen ein wenig verkrüppelt im Bett auf, meine Hände voll mit Kohle. Heute ist ein wärmerer Tag wie sonst, weshalb ich ein kürzeres Sommerkleid anziehe, blassgelb. Im Spiegel sehe ich, dass meine Augen stechend sind. Wie eine Glasscherbe. Oder Eis. Jedenfalls könnte man sich sicher daran schneiden, so viel steht fest. Mit dem Brief in der Hand gehe ich nach unten und hätte ihn fast fallen gelassen, als ich sehe, wie eng alle drei beieinandersitzen. Oder wohl eher, wie sehr Lucifer und Gabriel an Pallisander kleben. Anscheinend ist sie eine verdammt starke Sirene, wenn sie es sogar schafft, ihren Bruder in Bann zu ziehen. Meine Mutter hat alle um sich herum verzaubert, aber mich und Lyriam nicht, weil wir eine familiäre Bindung haben. Das scheint hier allerdings nicht der Fall zu sein. Der Moment, als Lucifer loslacht, weil Pallisander etwas Lustiges gesagt hat, ist der Moment, in dem ich es nicht länger verleugne. Ich hasse dieses Mädchen mit meinem ganzen Herzen. Vielleicht auch, weil ich ein wenig eifersüchtig bin. Ohne jemanden zu begrüßen lasse ich mich auf den Sessel fallen und schlage eine Zeitung auf. Ein Ratsmitglied kommt und nimmt mir den Brief ab, mit dem Versprechen, ihn unverzüglich zu meinem Bruder zu bringen. Das ganze Frühstück fühle ich mich so schlimm wie noch nie zuvor. Noch nie bin ich ignoriert worden, ich habe immer ein wenig im Mittelpunkt gestanden. Wo ich es früher doch gehasst habe, kann ich jetzt sagen, dass nichts schlimmer ist, als ignoriert zu werden.
Ich will gerade in mein Zimmer gehen – weil ich das ständige Kichern von den dreien langsam nicht mehr hören kann – als mich ein Mann zurückhält. Ein Ratsmitglied. „Prinzessin Elena, ich wünsche ein Gespräch mit Ihnen", sein Lächeln ist aus Holz, genauso gekünstelt wie meines. Zu zweit verlassen wir den Raum, die anderen bemerken es nicht einmal. Ich frage mich, ob sie überhaupt gewusst haben, dass ich im selben Raum gesessen habe, wie sie. Er deutet mir an, mich zu setzen. „Ich denke, Sie fragen sich sicher, weshalb Pallisander hier ist", ein mitleidiges Lächeln ziert seine Lippen, „Es tut mir leid, Prinzessin Elena, aber Sie haben nie die Wahl gehabt. Ihr Vater hat es nur so aussehen lassen, weil er wusste, dass Sie ansonsten niemals mitgegangen wären." Ich erstarre. In meinem Inneren breitet sich etwas aus, aber auf keinen Fall das Gefühl der Erleichterung oder etwas. Nein, etwas Eiskaltes. Wie tausend Dolche aus Eis, genauso fühlt es sich an. „Die Wahl ihres Vaters ist auf Gabriel gefallen. Nicht, dass die Menschen in Elysia noch denken, sie wären vom Teufel verführt worden." Es ist der Moment, in dem ich am liebsten meinem Vater ins Gesicht schlagen würde. Jetzt weiß ich, dass ich in meinem Inneren die Entscheidung schon getroffen habe. Und es ist nicht Gabriel gewesen, für den ich mich entschieden hätte. „Und Pallisander?", bringe ich flüsternd heraus. Der Mann starrt mich aus dunkeln Augen unverwandt an: „Sie wird mit Lucifer verlobt, dann könnte der Krieg zwischen Himmel und Hölle besiegelt werden." Ich habe gedacht, schlimmer könne es nicht kommen, doch anscheinend schon. Pallisander ist mein Ende. Sie ist in allem besser als ich und alle mögen sie lieber als mich. Ich habe doch gerade angefangen, etwas glücklicher zu werden. Es ist der Moment, in dem ich meine Maske aufsetze. Eine eiserne Maske, die keine Gefühlsregung zeigt und hoffentlich auch niemals wird.
Am Abend sitze ich, in einem warmen Pullover im Garten, was eigentlich für eine Prinzessin verboten ist, doch es ist mir egal. Ein Vater sollte das nicht tun. Kein Vater sollte jemals über das Leben der Tochter bestimmen und mein Vater hat es schon wieder getan. Es ist nur eine weitere Entscheidung, doch vielleicht ist es der Tropfen, der das Fass zum überlaufen bringt. Ich starre in den Himmel, über mir flattern ein paar Fledermäuse aufgeregt herum, ich betrachte sie eisern. Auch wenn sie schön sind, ich lasse es mir nicht anmerken. Jemand lässt sich neben mich fallen. Ohne zu schauen weiß ich, dass es Gabriel ist. Gabriel, der mit der süßen und unschuldigen Aura, der Engel. Eigentlich kein schlechter Mann, doch der Falsche für mich. Ich weiß zwar immer noch nicht, wer ich bin, aber ich weiß, was ich brauche. Und das ist Lucifer. Und vielleicht brauche ich ihn deshalb so dringend, weil ich mir schon immer die Dinge ausgesucht habe, die ich niemals haben kann. „Wusstet ihr es von Anfang an?", frage ich in die Stille und merke, wie sehr Gabriel vor mir zurückschreckt. Er schaut mich kritisch von der Seite an, doch mein Blick ist starr in den Himmel gerichtet. „Ja", flüstert er. Und das ist der Moment, in dem ich komplett zerbreche. Denn ich habe mich in Lucifer verliebt. Der aber hat nur mit mir gespielt, in dem Wissen, dass ich seinen Feind heiraten muss.
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Witches fight. || Abgeschlossen.
FantasyEngel oder Teufel? Die Frage, die Elena sich jetzt stellen muss. Eine Entscheidung, die für die Hexe lächerlich erscheint, da sie doch eigentlich Königin von Elysia werden sollte, einem kleinen Königreich. Sie sollte doch nicht über Himmel und Hölle...