Kapitel 10

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Mit einem arroganten Grinsen auf den Lippen starrte Arkham ihm entgegen. Langsam bewegte er sich auf J zu, der versuchte, das gerade Geschehene zu realisieren. Wenige Zentimeter vor ihm blieb er stehen, bedrohlicher denn je. "Ich glaube, wir sollten reden. Meinst du nicht, 4479?"

"Oh hier drinnen hab' ich eine andere Nummer, Doktorchen", schmatzte J ihm gespielt belustigt entgegen. Doch sein Gegenüber grinste ihm weiterhin provokant ins Gesicht. "Für mich wirst du immer Patient 4479 bleiben" Arkham wollte seine Macht demonstrieren, wollte J aus der Reserve locken - doch diese kläglichen Versuche prallten an ihm einfach ab. Er würde jetzt bestimmt nicht riskieren, dass ihm wegen einer Prügelei die Besuchsrechte gestrichen werden. Außerdem hatte J schon vor langer Zeit gelernt, dass es keine Mächtigen gab. Es gab einzig und allein jene, die Macht vorspielten. Umso weniger ein Mensch zu bieten hat, dachte J, desto größer stellt er sich dar. Egal, wie sehr Arkham jetzt auf großer Hai machte - er war bloß ein kleiner Fisch hier drinnen. Mit einem selbstbewussten Grinsen lehnte sich J also näher an ihn heran und flüsterte ihm kichernd zu: "Von dir lass' ich mir diesen Tag bestimmt nicht vermiesen" Dabei tippte er mit seinem Zeigefinger auf Arkhams Stirn, dessen Mine sich allmählich verhärtete.

"Na gut", sagte dieser plötzlich. "Lassen wir die Kindereien und sprechen wir wie Erwachsene, ja? Ich habe ein Anliegen"

Er wusste es. Dieser schmierige, vor Schleim triefende, hinterlistige, miese Hund.

"Ich will hier so schnell wie möglich raus"

"Ähm ... und?"

"Und, mein Freund, du wirst mir dabei helfen"

Er hörte wohl nicht recht. Dieser Mann hatte absolut kein Gewissen. Eine Menge Nerven, ja. Aber kein Gewissen. Welche Dreistigkeit musste ein einzelner Mensch besitzen, um so etwas zu fordern? Andererseits bewies genau das J's Theorie. Arkhams Anwälte hatten wohl schlicht versagt, denn immerhin saß er ein. Der Doktor hatte wirklich nicht so viel Macht, wie er gerade versuchte ihm weiszumachen. Dennoch, wie kam dieser Idiot nur auf so eine bescheuerte Idee ...

"Du aah ... hast sie doch nicht mehr alle"

"Ach komm, tu doch nicht so. Du hast es geschafft, aus meiner Anstalt auszubrechen, dann schaffst du es bei dieser Ruine von Gefängnis auch"

"Äh, das ist nicht wirklich das, was ich meinte ... Glaubst du ernsthaft, dass ich ... dir ... helfe? Dir? Hahahahahahaha! Guter Witz, Doktorchen" Und nach einem Schulterklopfer wandte er sich um, den Kopf schüttelnd und kleine Fluchwörter in die Luft murmelnd. Dass er Arkham einfach so stehen ließ würde mit Sicherheit noch Konsequenzen nach sich ziehen. Es war noch nicht vorbei.

****

In einer kleinen Praxis in Midtown

Nervös zupfte Ariana an ihrem Schal herum. Fast eine Woche war vergangen, seit sie im Blackgate war, und nun sollte sie gleich zu ihrer ersten Therapiesitzung antreten. Angestrengt versuchte sie sich zu beruhigen, doch die Luft im Wartezimmer war grauenvoll und die leise Hintergrundmusik machte sie wahnsinnig. In diesem Moment öffnete ihr Therapeut die Tür und erlöste sie von ihren Qualen. Dr. Howard-Bernham war einer der renommiertesten Psychotherapeuten in Gotham, und er arbeitete schon seit fünf Jahren eng mit dem Gotham General zusammen. Angeblich wollte Arkham ihn damals für seine Anstalt gewinnen, Bernham hat ihm allerdings den Laufpass gegeben. "Miss Black. Schön, dass Sie hier sind" Mit einem freundlichen, warmen Lächeln begrüßte er sie. Etwas zurückhaltend erwiderte Ariana den Handgruß, dann folgte sie ihm in sein Sprechzimmer. Es war klein und ähnelte ein wenig einem Wohnzimmer. Auf dem Tisch standen frische Blumen und eine Schüssel mit Schokopralinen. "Greifen Sie ruhig zu" Nickend bedankte sie sich, dann nahm sie auf einem der Ledersessel Platz. Allmählich beruhigte sie sich. Das hatte sie in erster Linie der Gemütlichkeit hier zu verdanken. Es war so ganz anders als im Arkham, und damit hatte sie nicht gerechnet, als sie hergekommen war.

"Sie hatten ja ein ganz schönes Abenteuer. Wie geht's Ihnen?"

"Ganz gut eigentlich. Gegen die Schmerzen nehme ich Tabletten ... sind ziemlich stark"

"Gut, gut. Und ... seelisch, banal ausgedrückt?"

Ariana überlegte. Im Großen und Ganzen ging es ihr eigentlich ganz gut mit allem. Ja, sie war sogar ziemlich zufrieden. "Doktor Arkhams Verbrechen wurden aufgeklärt ... also gibt es für mich keinen Grund, mich schlecht zu fühlen"

Der Therapeut lachte herzhaft, was ihr ein leichtes Schmunzeln bescherte. "Auf keinen Fall, nein. Von Kollege zu Kollege - er war schon ein ziemlicher Mistkerl. Aber dennoch ... Sie wurden angeschossen. Sie lagen sehr lange im Koma. Wie geht es Ihnen damit?"

"Es geht mir gut, wirklich" Ariana zuckte kaum merklich mit den Schultern. Vermutlich stimmte deshalb irgendetwas nicht mit ihr. Sie hatte seit sie aufgewacht war weder schlecht geträumt, noch irgendwelche Aussetzer gehabt. Womöglich lag es an den Tabletten, dass sie so ruhig war. Oder aber, die fast drei Monate Dauerschlaf sorgten dafür. "Ich bin ja auch nicht allein damit. Ich habe Leute, die für mich da sind. Meine Wunden heilen, wie sie sollen ... Ich könnte mich nicht beklagen" Die Hälfte der Zeit sprachen sie fast ausschließlich über das sogenannte 'Abenteuer', da er sie gebeten hatte, den Abend so gut es ging Revue passieren zu lassen. Das sollte ihr dabei helfen, alles Stellen ins Gedächtnis zurückzuholen, die bisher nur noch vage vorhanden zu sein schienen. Hin und wieder machte er sich Notizen, wenn Ariana auf etwas resigniert reagierte. Die junge Frau wusste ja, wie solche Sitzungen funktionierten, also überraschte sie es nicht, dass er auch ihre Körpersprache zu deuten versuchte. Allerdings kam ihr die ganze Situation wie ein Paradoxon vor. Es war einfach seltsam, nun selbst auf dieser Seite des Tisches zu sitzen. Und allmählich fing sie an zu verstehen, wieso J oft auf Durchzug geschalten hatte: Es fühlte sich an wie ein Verhör. Dr. Howard-Bernham gab sich zwar alle Mühe, es nicht so wirken zu lassen, doch auf Fragen antworten zu müssen, auf die man eigentlich nicht antworten mochte, kam nun einmal schlichtweg einem Verhör gleich. Plötzlich, gerade als sie zu der Stelle kam, an der sie im Lager aufgewacht war, unterbrach sie der Therapeut: "Miss Black, Sie haben vorhin kurz Ihre Eltern erwähnt ... Ich weiß, das hat nichts mit der Entführung zu tun, doch lässt mich der Gedanke nicht los. Darf ich fragen, was damals geschehen ist?"

Ariana hatte eigentlich nicht vorgehabt, so weit in die Vergangenheit abzutauchen, zumindest nicht in der ersten Sitzung. Aber womöglich war es an der Zeit, auch dieses Thema endlich aus der Kiste der Erinnerungen zu kramen. "Ich war dreizehn oder vierzehn", begann sie langsam. "Ich hab schon geschlafen, als unten plötzlich das Feuer ausgebrochen ist. Soweit ich mich erinnern kann, hatten wir wohl ein Gasleck. Wie dem auch sei, als unten alles brannte und langsam der Rauch nach oben kam, wachte ich auf. Mein Vater hat sofort reagiert und zuerst mich aus dem brennenden Haus gebracht, dann ist er zurückgelaufen, um meine Mutter zu holen. Beim hinaustragen konnte ich sehen, dass sie ohnmächtig in der Küche gelegen hat ... Wahrscheinlich hat er versucht, sie irgendwie wachzukriegen ... Eine Nachbarin hat draußen auf mich aufgepasst und die Feuerwehr verständigt, aber ... die hat zu lange gebraucht. Sie traf erst ein, als alles bereits zu spät war. Meine Eltern sind beide im Haus gestorben." Ein großer Kloß stecke in ihrem Hals, als sie nach Jahren erstmals wieder jemandem davon erzählte. Doch das Schweigen des Arztes deutete ihr, dass sie weitermachen sollte. Und so fuhr sie fort; erzählte von ihrer schrecklichen Zeit bei Tante Gertrud, von der wunderbaren Zeit bei ihren Großeltern und wie diese, viel zu früh, ebenfalls gestorben waren. Es tat gut, alles rauszulassen. Beinahe fühlte es sich an, als würde ihr Kopf leichter werden. Als hätten diese ganzen Erinnerungen für den Druck darin gesorgt. Sie hatten sich angehäuft, angestaut, benötigten Platz, doch weniger wurden sie nicht. Sie waren lange Zeit weggeschlossen, aber nun traten sie zu Tage. Sie waren endlich frei, und mit ihnen Ariana. 

Unexpected - Teil 2Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt