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Ich war spät dran. Hektisch lief ich die Gänge entlang und mir fielen einige Schüler ins Auge. Sie ärgerten ein Mädchen, bei genauerem Hinschauen fiel mir auf, dass es Marie war, die gehänselt wurde. 

Marie war eine sehr kluge Schülerin, doch sie hatte ihren eigenen Kopf. 

"Lasst sie in Ruhe", befahl ich ihnen.

Sie lachten jedoch nur. "Sie hat ein Buch geschrieben", prustete einer von ihnen.

"Was?", ich verstand nicht.

"Sie hat ein Buch geschrieben", kicherte ein anderer. Er hielt einen Haufen zusammengeheftetes Papier in der Hand. 

Ich verdrehte die Augen und schnappte es mir. "Geht in eure Klasse", trug ich ihnen auf. 

Immer noch lachend marschierten sie in ihre Klassenräume.

"Marie?"

"Ja?" 
Sie schaute mich verwirrt an.

"Darf ich es lesen?"

Das Mädchen wurde rot. "Wenn Sie wollen."

"Okay, ich bringe es dir wieder zurück."

Ich wusste nicht, was mich so reizte, dieses Buch zu lesen. Aber ich hatte das Gefühl, dass es mehr war, als nur ein Aufsatz. 

Ich steckte das Papier in meine Tasche und lief auch selbst schnell in meinen Unterricht. 


Zu Hause zog ich das "Buch" wieder aus meiner Tasche und begann zu lesen. 

Es war, bis auf ein paar Beistrichfehler, wirklich hervorragend geschrieben. Ich verschlang die Geschichte geradezu. 

"Was liest du da, Elisa?", fragte mich Martin, als er das Zimmer betrat.

"Einen Aufsatz", murmelte ich, ohne ihn wirklich zu beachten. 
Ich hatte die Angewohnheit, Menschen irgendetwas zuzumurmeln, von dem ich selbst nicht einmal wahrnahm, was ich sagte, wenn ich ihn etwas vertieft war.

Es wurde später und später, doch ich beachtete die Zeit nicht. 

Ich war vertieft in das Buch. Es faszinierte mich.

Die Geschichte handelte über eine junge Frau, auf der Suche nach sich selbst. Ich konnte mich überraschend gut mit ihr identifizieren. Aber ich kannte mich selbst doch, oder?



"Elisa?"

Schlagartig öffnete ich meine Augen.

"Elisa, hast du hier geschlafen?"

Ich schaute mich um. Ich war im Wohnzimmer. "'Sieht so auch", murmelte ich. Ich sah auf meinen Schoß, wo Maries Buch lag. Ich musste während dem Lesen eingeschlafen sein.

Schnell sprang ich auf, stopfte die Mappe in meine Tasche und lief in mein Zimmer, um mir etwas Neues anzuziehen. 
Martin zog einfach nur verwirrt seine Augenbrauchen hoch und schüttelte den Kopf.

"Was sind das denn für wichtiger Aufsatz?", fragte er mich schließlich, als wir im Auto saßen.

Ich zuckte mit den Schultern. "Nichts Besonderes. Ich habe den Kindern aufgegeben, eine Erlebniserzählung zu schreiben. Ich wollte sie nur mehr fertig verbessern, dass ich es hinter mir habe."

Martin gab keine Antwort, er nickte nur. 

Jedes Mal, wenn er nicht im Lehrerzimmer war, zog ich die Mappe heraus und las weiter. 

Ich wusste, ich sollte nichts vor ihm verheimlichen. Aber was war es schon, eine Geschichte einer Schülerin zu lesen? Ich wollte ihr doch nur eine Chance gaben, ohne, dass gleich die ganze Schule davon erfuhr. 



Out SchoolWo Geschichten leben. Entdecke jetzt