Sechs

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Viktoria

Ziellos irre ich durch die Straßen Berlins. Meine Gedanken kreisen nur darum, was als Nächstes passieren wird. Das ausgeschaltete Handy halte ich noch immer in meiner Hand. Ich habe das Gefühl es brennt wie Feuer und mit jeder Sekunde, in der es weiter abgeschaltet ist, scheint es nur noch heißer zu werden.

Mir ist vollkommen bewusst, dass ich Niall und meiner Mutter nicht ewig aus dem Weg gehen kann, obwohl ich es so gerne möchte. Aber spätestens, wenn die Nacht hereinbricht, muss ich nach Hause zurückkehren. Ich habe nichts außer mein Portmonee und mein Handy bei mir und niemanden, bei dem ich Unterschlupf suchen kann. In diesem Moment fühle ich mich vollkommen alleine.

Harry kommt mir in den Sinn. Wäre ich noch immer auf Teneriffa, weil ich mich getraut hätte Nialls Antrag abzulehnen, dann würde ich jetzt nicht in dieser für mich ausweglosen Situation feststecken.

Jede Nacht, seitdem ich Ja gesagt habe, denke ich an den Moment zurück, als Niall die Frage gestellt hat. Und ich kann einfach nicht vergessen, wie Harry mich im gleichen Augenblick angesehen hat. Es schien fast so, als wollte er nicht glauben, was direkt vor ihm geschieht.

Ich war völlig überrumpelt von der Tatsache, dass er dort aufgetaucht ist. Warum er gekommen war, darüber konnte ich nur spekulieren. Dennoch liegt die Vermutung nahe, dass er die Verlobung verhindern wollte. Nur warum?

Hat er vielleicht an ein gemeinsames Leben mit mir geglaubt? Aber was für eine Zukunft wäre das dann? Sind Harry und ich nicht viel zu verschieden um wirklich zueinander passen zu können? Er pflegt einen völlig gegensätzlichen Lebensstil, als ich es gewohnt bin. Es ist nicht so, dass ich auf alle den Reichtum angewiesen bin. Ich glaube durchaus, dass ich auch mit weniger, viel weniger als ich jetzt besitze, glücklich sein kann. Aber mit so wenig, wie Harry es tut?

Bevor ich den Gedanken zu Ende denken kann, werde ich durch das Hupen eines Autos unbarmherzig in die Gegenwart geholt. Kopflos bin ich einfach über die Straße gegangen und habe den herannahenden Wagen nicht als potenzielle Gefahr wahrgenommen.

Der Fahrer fährt an mir vorbei, sobald ich die Straße geräumt habe. Durch die geschlossene Scheibe macht er eine Handgeste, mit der er mich fragen will, ob ich noch ganz klar im Kopf bin. Entschuldigend hebe ich die Hände, aber der Fahrer schüttelt nur mit dem Kopf, bevor er Gas gibt und davonfährt. 

„Das hätte auch schief gehen können, Kindchen", spricht mich ein alter Herr von der Seite her an. Gestützt auf einem Gehstock lächelt er mich von unten herauf an.

„Ja hätte", antworte ich nur und drehe mich ohne ein weiteres Wort einfach um und gehe zurück zur U-Bahnstation.

Da ich ohnehin nicht weiß, was ich sonst tun soll und wo ich stattdessen hin könnte, entschließe ich mich lieber früher als später nach Hause zurückzukehren. Vielleicht kann ich Niall erklären, dass ich kalte Füße bekommen habe und mir die ganze Aktion im Brautladen einfach zu viel wurde. Ich hoffe auf sein Verständnis, auch wenn diese Hoffnung mehr als gering ist.

Rund einen Kilometer muss ich von der Haltestelle bis zu mir nach Hause laufen. Schon die letzten Fahrtminuten im Zug bekam ich Bauchschmerzen, welche durch eine Übelkeit abgelöst wurden, seit ich mich mit jedem Schritt, den ich zurücklege, meinem Wohnhaus nähere.

Bevor ich die wenigen Stufen zur Eingangstür nach oben gehe, versuche ich noch einmal tief Luft zu holen und so meine angespannten Nerven zu beruhigen. Es nützt nichts, denn meine Finger zittern, als ich den Schlüssel in das Schloss schieben möchte.

Die alten Holzstufen knarzen unter meinem Gewicht, als ich nach oben in unser Stockwerk gehe und vor der Wohnungstür noch ein weiteres Mal innehalte und versuche, mich mental für das zu wappnen, was mich gleich erwarten wird. Gerade als ich aufschließen möchte, wird die Tür bereits direkt vor meiner Nase geöffnet.

Opposing Lives || Band II   *pausiert*Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt