Zehn

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„Niall" krächze ich überrascht.

Meine Stimme zittert, während mir gleichzeitig mein Herz bis zum Hals schlägt. Ich habe gehofft, dass ich schnell genug meine Sachen packen kann und somit verschwunden bin, bevor Niall nach Hause kommt. Doch ich habe mich geirrt. Jetzt steht er nur wenige Schritte von mir entfernt. Direkt vor der Wohnungstür und versperrt mir somit den Weg nach draußen. Einen anderen Weg gibt es nicht,  außer ich entscheide mich dazu, über den Balkon in die Tiefe zu springen. 

Nialls Körperhaltung ist angespannt. Seine Kiefer mahlen und die Fäuste sind geballt, sodass die Knöchel unter seiner Haut hell hervortreten. Verunsichert kaue ich auf meiner Lippe. Noch immer halte ich die Sporttasche in der Hand, verstärke jedoch meinen Griff, weil ich befürchte, dass sie mir sonst aus den schweißnassen Fingern rutscht.

„Wo willst du hin?"

Jedes einzelne Wort seiner Frage presst er zwischen den Lippen hervor. Es erweckt ganz den Eindruck, als müsste sich Niall unheimlich zusammenreißen. Ich weiß, dass ich jetzt nichts falsch machen darf. Meinem ersten Impuls, wie ein scheues Reh die Flucht zu ergreifen, widersetze ich mich.

Als ich weiterhin schweige, macht mein Gegenüber einen ungeduldigen Schritt auf mich zu und fordert mich erneut auf, zu erklären, was ich mit der Sporttasche in meiner Hand vorhätte.

Ich könnte lügen, überlege ich, doch fast im gleichen Atemzug verwerfe ich diese Idee. Niall ist nicht dumm, er weiß, was ich vorhabe, weshalb ich mich dazu entscheide, ihm die Wahrheit zu sagen. Lügen haben uns im Grunde eigentlich erst an diesen Punkt gebracht.

„Lass mich bitte gehen. Das was zwischen uns ist oder war, tut uns beiden nicht mehr gut", appelliere ich schließlich an das Gute in meinem Freund.

Doch Niall zeigt sich davon völlig unbeeindruckt. Er erklärt lediglich, dass ich nirgendwo hingehen würde und er mich auch nicht gehen lassen würde. Zwei Schritte später ist er bei mir. Steht plötzlich so dicht vor mir, dass mich sein warmer Atem direkt ins Gesicht trifft. Ich möchte in mein altes Schema fallen und den Kopf senken. Mich klein machen und akzeptieren, dass ich nicht gewinne kann. Doch der Wunsch, endlich so leben zu können, wie ich es möchte, ohne dass mir jemand sagt, was am besten für mich ist, ist stärker.

Ohne zu überlegen drücke ich mich an Niall vorbei und möchte zur Tür rennen. Wenn ich es nur nach draußen schaffe, dann wird er mich nicht mehr aufhalten, dessen bin ich mir sicher.

Mein plötzlicher Versuch, davon zulaufen, muss Niall überrascht haben, denn ich schaffe es tatsächlich, bis zur Tür zu gelangen. Als ich diese allerdings öffnen möchte, um das Treppenhaus zu betreten, wird die Tür mit Wucht vor meiner Nase zugestoßen und ich werde am Oberarm von dort weggezogen. Erschrocken hole ich Luft.

Aufgrund der plötzlichen Richtungsänderung gerate ich ins Stolpern. Allerdings falle ich nicht, da Niall mich weiterhin fest im Griff hat.

„Ich habe es satt, dass du dich so anstellst. Seit du mit dem Kellner gefickt hast, bist du völlig wahnsinnig geworden. Du gehörst zu mir. Wir lieben uns", brüllt er mich an.

Tränen steigen in meine Augen, doch dieses Mal nicht aus Verzweiflung, sondern aus Wut.

„Nicht ich bin es, die wahnsinnig ist, sondern du", brülle ich zurück und füge hinzu: „Ich liebe dich nicht."

Doch falls ich geglaubt habe, die ungeschminkte Wahrheit meinerseits würde Niall zum Nachdenken anregen, so habe ich mich getäuscht. Bevor ich mich ducken oder zur Wehr setzen kann, landet seine flache Hand mit so viel Wucht in meinem Gesicht, dass mein Kopf zu Seite fliegt und ich auf die Knie sacke.

Mit der freien Hand taste ich nach meiner glühenden Wange. Geschockt über diese Tat meines jahrelangen besten Freundes spüre ich nicht einmal den Schmerz. Es ist plötzlich ganz still. So still, dass man eine Stecknadel fallen hören könnte. Die Tränen, welche bis eben noch aus Wut bei mir geflossen sind, sind getrocknet. Ungläubig hebe ich meinen Kopf und sehe auf zu Niall, der noch immer über mir steht und mich mit offenem Mund anstarrt. In diesem Moment spüre ich nur Verachtung für diesen Mann.

Ich will aufstehen, doch mein Körper zittert. Ich bin so verdammt wütend, dass ich das Blut in meinen Ohren pochen höre. Niall löst sich aus seiner Starre und will mir beim Aufstehen helfen.

„Bitte Vicky lass mich dir helfen. Ich wollte ... ich habe doch nur ... es ...", ringt er nach Worten. Will sich offenbar entschuldigen. Plötzlich klingt er ganz kleinlaut. Nichts ist mehr von seiner angsteinflößenden Aura zu spüren.

Doch ich habe genug von ihm. Von allen, die mich wie selbstverständlich nach ihrer Ansicht geformt haben.

Bevor Niall mich noch ein weiteres Mal anfassen kann, rutsche ich aus seiner Reichweite, um mich anschließend mühsam auf die Beine zu stemmen.

„Wir müssen reden", fleht Niall.

Ich allerdings hebe nur die Hand, zeige mit dem Finger auf ihn und wähle meine Worte sorgfältig aus.

„Ich hasse, was aus dir geworden ist. Du bist schlimmer als meine Eltern."

Und dann schultere ich meine Tasche. Streiche meine Kleidung glatt und richte meine Haare bevor ich geradewegs zur Tür gehe. Niall sehe ich nicht mehr an, spüre dennoch deutlich seinen Blick auf mir. Ich betrete den Flur und befürchte fast, dass er es noch einmal versuchen wird, mich aufzuhalten. Doch dieses Mal kann ich ohne Widerstand seinerseits die Tür hinter mir schließen und somit auch endlich diese Kapitel in meinem Leben beenden.

Langsam gehe ich die Stufen nach unten, verlasse mein altes zuhause und gehe auf den roten Golf meiner Freundin zu. Ohne noch einen letzten Blick auf das Haus zu werfen, öffne ich den Kofferraum und verstaue meine Tasche darin.

Nachdem ich die Tür geschlossen und den Gurt angelegt habe, bitte ich Mel, loszufahren.

„Was ist mit deiner Wange passiert?", erkundigt sie sich allerdings und sieht mich aus ihren dunklen Augen mitfühlend an.

„Es geht mir gut", versuche ich ihre Sorge zu zerstreuen. „Bitte fahr los."

Der Motor erwacht brummend zum Leben und Melanie gibt Gas.

Mit jedem Meter, den wir zurücklegen, spüre ich wie meine Wut durch Erleichterung abgelöst wird und schließlich dazu führt, dass ich mich mit einem Lächeln in die weichen Polster des Beifahrersitzes sinken lasse.

Ich bin bereit, mein Leben selbst in die Hand zu nehmen und ich weiß, dass ich es auch alleine schaffen kann.


So, jetzt wünsche ich mir aber einen Sternchenregen von euch. :) Vicky hat es endlich geschafft sich zur Wehr zusetzen, was sagt ihr dazu?

Und was glaubt ihr gibt Niall wirklich auf?

Ich hoffe ihr hattet ein paar schöne freie Tage. Ich habe sie sehr mit Familie und Freunden genossen. :D

Anni

Opposing Lives || Band II   *pausiert*Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt