Neun

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„Viktoria", höre ich Melanie erschrocken nach Luft schnappen und im selbem Augenblick ist sie auch schon neben mir in die Hocke gegangen und hat einen ihrer Arme um mich gelegt.

Obwohl es mir unendlich peinlich ist, dass ich vor meiner Sekretärin heulend auf dem Boden hocke, kann ich das Zittern meines Körpers nicht kontrollieren. Meine Nase läuft und ich versuche die Spuren mit dem Ärmel meiner Bluse zu beseitigen.

„Ich bin erbärmlich", schluchze ich immer wieder und Melanie beginnt damit, mich enger zu umarmen und mir sanft über den Kopf zu streicheln.

Obwohl ich mich weiterhin schäme und ich am liebsten aus dieser Situation flüchten will, bemerke ich, wie mein Körper etwas Anderes möchte. Unter der beruhigenden Geste meiner einzigen Freundin und der leisen Melodie, die sie summt, um mich vermutlich noch weiter zu beruhigen, beginne ich mich zu entspannen.

Das letzte Mal, dass mich jemand mit so viel Vorsicht behandelt hat, war auf Teneriffa und schlagartig strömt die Erinnerung an Harry wieder auf mich ein. Wie eine Welle, die mich überollen droht, wirken die Bilder, die sich hinter meinen verschlossenen Lidern blitzartig auftuen, auf mich. Doch diesen Schmerz möchte ich nicht auch noch in diesem Moment an mich heranlassen. Ich kämpfe dagegen an und als ersten Schritt beginne ich damit, mein Gesicht von den Tränen zu befreien und versuche so auch die Bilder von Harry wegzuwischen.

„Was ist dir passiert?", forscht Mel vorsichtig nach, als sie mir dabei behilflich, ist auf die Beine zu kommen. Meine Knie zittern zwar, aber dennoch habe ich genug Kraft, um nicht wieder zusammen zu brechen.

„Kannst du mir bitte einen Schluck Wasser holen."

Nickend macht sich Melanie daran, uns Gläser einzuschenken. Ich nutze die Gelegenheit und drehe mich Richtung Fenster. Der Himmel ist heute wolkenverhangen und die Sonne schafft es nur selten ein paar Strahlen auf die Erde zu schicken. Schemenhaft kann ich mein Spiegelbild in der Scheibe erkennen. Ich sehe, wie ich wieder einmal völlig fertig bin. Erschöpft von all dem, was in meinem Leben seit Jahren schief läuft und sich nun immer mehr beginnt zu rächen.

Ich kann meinen eigenen Anblick nicht mehr ertragen. Jedes Mal, wenn ich mein Spiegelbild sehe, dann sehe ich nur Fehler. Ich nehme die ersten zarten Falten um meine Augen herum war. Ich finde, dass meine Nase zu groß ist und meine Lippen zu schmal. Immer bin ich nur damit beschäftigt, das Schlechte in mir zu sehen. Mich zu fühlen, als könnte ich nie für irgendetwas gut genug sein. Das ist ein Bild, das ich nicht mehr ertragen kann. Ich bin kein fehlerhafter Mensch. Die Fehler, die ich glaube zu sehen, die ich glaube zu machen, die wurden mir von Anderen eingeredet. Mein einziger Fehler ist es, auf die Fehler zu hören, die Andere in mir sehen.

Ich will nicht mehr auf diese Anderen hören.

„Bitteschön."

Meine Freundin hält mir das Glas mit Wasser hin. Die Kohlensäure klettert in kleinen Bläschen nach oben und als mein Blick diesen folgt, schaue ich direkt in die warmen Augen von Mel.

„Ich brauche deine Hilfe", wende ich mich direkt an sie.

Ohne nach dem warum, oder weshalb zu fragen, erkundigt sie sich einfach nur, was sie tun kann und ich bin ihr unglaublich dankbar dafür.

„Ich muss ein paar Sachen von zu Hause holen", erkläre ich, während ich schon dabei, bin meine Tasche zu schultern. Wir müssen hier verschwinden, bevor mein Vater hier jeden Moment auftaucht, um mich auf das Meeting noch ein letztes Mal vorzubereiten, welches in einer Stunde beginnen soll.

„Okay", antwortet Mel und stellt die noch immer vollen Gläser auf meinem Schreibtisch ab.

Ich bedanke mich bei ihr. Ein letztes Mal sehe ich mich in dem Büro um, ob es irgendetwas gibt, das ich mitnehmen möchte. Doch hier ist nichts, das einen Platz in meinem neuen Leben verdient hätte.

So unauffällig es möglich ist, nehmen wir den Fahrstuhl nach unten, welcher uns direkt in die Tiefgarage führt, in welcher Melanie ihren knallroten Golf geparkt hat.

Da sie als meine Sekretärin die Adresse kennt und auch schon ein paar Mal bei uns war, muss ich ihr den Weg nicht beschreiben. Sicher lenkt sie das Gefährt durch den dichten Verkehr der Innenstadt. Gedankenverloren starre ich während der Fahrt aus dem Fenster.

„Viktoria?", auffordernd stößt Mel mich an, um sich gleich darauf wieder auf die Straße zu konzentrieren.

Verwirrt sehe ich sie an und entschuldige mich für meine mangelnde Aufmerksamkeit, was sie nur mit einem Lächeln abtut.

„Stört es dich, wenn ich Musik anmache?"

Als ich verneine, schaltet sie das Radio ein.

„Die Musik lenkt mich von all diesen Idioten auf der Straße ab", erklärt sie und ich blicke sie verständnislos an.

„Immer, wenn ich einem Anderen den Mittelfinger zeigen möchte, weil er rücksichtslos fährt, singe ich laut mit. Ich bin schließlich eine Lady", lacht sie und streift dabei schwungvoll ihre langen schwarzen Haare über die Schulter.

Unwillkürlich muss ich lächeln und bestätige, dass ich sie lieber singen hören möchte, als fluchen.

„Allerdings hast du mich noch nie singen gehört", warnt sie mich amüsiert und ich lächle wieder.

Danach schweigen wir erneut, doch es ist kein unangenehmes Schweigen. Mel summt unbekümmert die Melodie im Radio mit und ich mache in Gedanken eine Liste von den Dingen, die ich zu Hause einpacken will.

Eine gute halbe Stunde später parkt Mel den Golf vor meinem Haus. Als ich aussteigen möchte, macht meine Freundin ebenfalls Anstalten mir zu folgen, doch ich halte sie zurück.

„Ich muss das alleine machen", erkläre ich.

„Aber was ist mit...", bevor sie die Frage aussprechen kann unterbreche ich sie und erkläre ihr, dass Niall nicht zu Hause ist.

Ich wusste, dass er die Zeit, in der er mich nicht ständig überwachen muss dafür nutzen würde, um seine Eltern zu treffen. Die beiden sind noch immer mehr oder wenige ahnungslos, dass zwischen ihrem Sohn und mir alles schiefgelaufen ist. Auch wenn ich den Eindruck habe, dass Maura etwas ahnt. Aber sie scheint lieber die Augen vor der Wahrheit zu verschließen, als zu akzeptieren, dass ihr Sohn sich verändert hat und ich kann ihr das im Grunde nicht verübeln. Es ist nicht nur Niall seine Schuld und vielleicht ist meine Flucht auch für ihn eine Chance, sich selbst wieder zu finden.

Um keine Zeit mehr zu verlieren gehe ich geradewegs ins Schlafzimmer und beginne damit, ein paar Sache zu packen. Ich habe die Befürchtung, dass Niall hier aufschlagen wird, sobald der Anruf meines Vaters ihn erreicht, in welchem er sich erkundigen wird, wo ich wäre.

Mit viel Glück habe ich eine halbe Stunde. Die Kleidung, welche ich einpacke ist praktisch. Nichts Schickes oder Teueres. Das werde ich ohnehin in der nächsten Zeit nicht benötigen. Lediglich ein paar einfache Hosen und schlichte Oberteile laden in der Tasche.

Danach gehe ich ins Bad, das MakeUp lasse ich links liegen, packe stattdessen meine Zahnbürste und Duschgel ein. Eben die Utensilien, die man braucht, um gepflegt zu wirken und nicht aufgetakelt, wie es sonst immer der Fall bei mir ist.

Die große Sporttasche ist mittlerweile voll und recht schwer, sodass ich stöhne, als ich sie hochhebe, um zur Tür zu gehen. Bevor ich das Haus endgültig verlasse, bleibt mein Blick an einem Foto hängen, welches auf der Kommode im Flur steht. Es zeigt mich und Niall, als wir noch im Kindergarten waren. Mit einer typischen Unbekümmertheit, die wir als Kinde noch hatten, strahlen wir in die Kamera. Unsere Arme haben wir jeweils um den Anderen gelegt. Freunde fürs Leben, das haben wir uns damals geschworen. Ich muss lächeln und entschließe mich dazu dieses Bild einzupacken. Anstelle der Fotografie lasse ich den teuren Verlobungsring zurück.

Gerade möchte ich für immer gehen, doch da öffnet sich die Tür und Niall steht mir direkt gegenüber. Schwer atmend und mit Zorn in den blauen Augen.






Was wird Niall tun?

Bitte das Sternchen nicht vergessen, das würde mich sehr freuen.

Für heute bleibt mir nur noch euch ein schönes Wochenende zu wünschen. :)

Anni

Opposing Lives || Band II   *pausiert*Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt