Eine zweite Chance

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Als Harumi am nächsten Tag von der Schule nach Hause kam, fühlte sie sich wie ein ausgewrungener Waschlappen, schlapp und antriebslos.
Am Nachmittag hatte sie wie jeden Dienstag Tennis gespielt, aber selten hatte sie weniger Begeisterung für ihr Hobby aufbringen können. Sie hatte kaum einen Ball erwischt, ihr hatte die Kraft gefehlt, um sich viel zu bewegen. Sie hatte absolut keine Lust gehabt.
Die Schule war zudem anstrengend gewesen, die meiste Zeit hatte sie einfach den Kopf auf ihre Arme gebettet und war mit ihren Gedanken ganz woanders gewesen. Die Mathearbeit, die sie hatte schreiben müssen, hatte sie auf jeden Fall verhauen. Ihre Freundinnen hatten glücklicherweise irgendwann aufgehört, Fragen zu stellen.
Es war spät und Harumi hundemüde, sie wollte einfach nur noch ins Bett und am besten nie wieder aufstehen. Einfach in den Kissen versinken und auf ewig dort bleiben. Ihr Bett war eigentlich der einzige Ort, an dem sie sich noch einigermaßen wohlfühlte. Aber selbst dann wälzte sie sich noch schlaflos herum, weil da so viele Dinge waren, an die sie denken musste.
Gerade als Harumi den letzten Teil ihrer Schuluniform achtlos auf den Schreibtischstuhl warf, begann ihr Handy zu klingeln, das auf dem Schreibtisch lag, es ließ den ganzen Tisch mitvibrieren, ein hässliches Geräusch. Harumi nahm das Mobiltelefon zur Hand und warf nur einen mäßig interessierten Blick auf das Display. Dann stellte sie verwundert fest, dass ihr eine unbekannte Nummer angezeigt wurde. Sie hatte mit Asuka oder Mayumi gerechnet.
Harumi seufzte. Sie hatte wirklich keine Lust, mit irgendwem zu reden, aber Himmel, sie hatte einen so großen Freundeskreis und so viele Clubs und Teams, von denen sie ein wichtiger Teil war ... möglicherweise war es wichtig.
Also nahm sie den Anruf an und schaute auf die Uhr. Es war bereits um elf.
„Ja, hallo?", meldete sie sich und ließ sich auf ihr Bett sinken.
„Hey, Haru, bist du's?", fragte am anderen Ende der Leitung eine männliche Stimme.
„Äh, ja ...", meinte Harumi verwirrt. „Und wer bist ..."
„Ich bin's, Alex."
Entsetzt riss Harumi die Augen auf und beinahe hätte sie ihr Handy fallengelassen. Ein erschrockener Laut entrann ihrer Kehle. „Alex ...?", wiederholte sie dann ungläubig.
„Halt, stopp, bitte warte!", rief Alex da hastig. „Bitte, leg' nicht auf."
Harumi war fast zu perplex, um zu antworten. „O-okay", sagte sie dann jedoch mit zittriger Stimme, während sie insgeheim glaubte, vor Peinlichkeit sterben zu müssen. Und dabei sprach sie nicht einmal von Angesicht zu Angesicht mit ihm.
„Tut mir leid, dass ich dich so spät noch anrufe, aber ich hab's nicht mehr ausgehalten", sprach der Junge am anderen Ende der Leitung nun etwas ruhiger weiter.
„W-woher hast du meine Nummer?", wollte Harumi verwirrt wissen, während sie bewegungslos auf den Boden starrte, in dem sie am liebsten versinken wollte. Zugleich fühlte sie sich leer und wie eine Marionette. Beinahe, als wäre sie kein selbstständiges Wesen mehr, ihre Lippen bewegten sich ganz von allein, während sie sich innerlich eine Närrin schimpfte. Ist das jetzt wirklich mein wichtigstes Problem?, fragte sie sich gedanklich und musste ein nervöses Zittern unterdrücken.
„Tut mir leid", sagte Alex da. „Ich hab' Kin-kun nach der Nummer deiner Freundin gefragt und dann Mayumi um deine Nummer gebeten. Bitte sei ihnen nicht böse, ich denke ... ich war ziemlich hartnäckig." Fast klang er ein wenig beschämt.
„D-das ist jetzt egal", entschied Harumi endlich mit bebender Stimme und schluckte.
„Du hast Recht", bestätigte Alex und Harumi konnte hören, dass auch er nervös war, wie sehr er sich zur Ruhe zwingen musste. „Haru - Es tut mir so leid, was am Samstag passiert ist", sagte er dann plötzlich vollkommen unerwartet. „Wirklich, so unendlich leid. Ich wollte dich ganz bestimmt nicht bedrängen. Ich ... ich hätte dich fragen müssen."
Harumi wollte ihren Ohren kaum trauen. Er entschuldigt sich bei mir?!, dachte sie fassungslos, dann endlich löste sie sich aus ihrer dümmlichen Starre. „Um Gottes Willen!", rief sie nun endlich aus, plötzlich war das Bedürfnis sich zu erklären überwältigend. „Dafür brauchst du dich doch nicht zu entschuldigen! Ich bin diejenige, die sich gar nicht oft genug entschuldigen kann! Wirklich ... es tut mir unfassbar leid. Ich war ganz schrecklich widerlich zu dir." Gegen ihren Willen musste sie leise lachen, und Harumi verfluchte sich dafür, dieses Lachen war stets die Vorstufe zum Heulen ... oder zum Wahnsinnigwerden. „Oh Gott, das ist so peinlich ...", wisperte sie nun leise.
Alex lachte ebenfalls, doch es klang eher erleichtert. „Das braucht dir nicht peinlich zu sein", beruhigte er sie dann. „Mensch, du glaubst gar nicht, wie froh ich bin, dass du mir nicht weiter böse bist." Sie hörte, wie er ausatmete. „ ... Wenn du nicht darüber reden willst, musst du mir nicht antworten, aber kann es sein, dass du schlechte Erfahrungen gemacht hast?"
Harumi schluckte. Schlechte Erfahrungen ..., wiederholte sie seine Worte gedanklich und nickte dann unnötigerweise. „Ja", hauchte sie dazu leise.
„Das dachte ich mir. Gott, in diesem Zusammenhang fühle ich mich noch schlechter", meinte Alex nun und merkwürdigerweise hörte Harumi aus seiner Stimme dieselbe eigenartige Verzweiflung heraus, die sie selbst auch verspürte, eine Mischung aus Scham und Selbsthass.
Was für eine merkwürdige Situation, dachte Harumi kopfschüttelnd, doch allmählich konnte sie sich wieder entspannen. „Okay", sagte sie nun, beinahe mehr, um sich selbst zu beruhigen. „Es gibt keinen Grund, dich schlecht zu fühlen. Ich hab' überreagiert und du konntest es nicht ahnen. Es ist meine Schuld. Ich ... hatte nicht damit gerechnet, dass ..." Ihre Stimme versagte.
„Sh", machte Alex. „Es ist okay." Kurz entstand eine Pause, dann sprach er weiter. „Okay, es hat wohl keinen Sinn, wenn wir uns darum streiten, wer von uns beiden die Schuld hat. Sagen wir einfach, dass wir einen schlechten Start hatten. Was hältst du davon?"
Harumi lächelte, als sie diese versöhnlichen Worte vernahm. „Okay", bestätigte sie mit dünner Stimme und versuchte, ihre Tränen zurückzuhalten. Sie war schon wieder so verwirrt, so aufgewühlt, so schrecklich unsicher, was sie noch denken sollte ... Aber sie glaubte allmählich, dass sie Licht am Ende des Tunnels sehen konnte. Ein schlechter Start ... bedeutet das, dass ... Sie konnte diesen Gedanken kaum zu Ende bringen, stattdessen biss sie sich auf die Unterlippe und schwieg.
Sie schwiegen eine ganze Weile, wahrscheinlich hing auch Alex einen Moment lang seinen eigenen Gedanken nach, genau wie Harumi, und sie spürte, wie das Gewicht, das seit dem Wochenende auf ihrer Brust gelegen zu haben schien, um einiges leichter geworden war.
„Hey, Haru", sagte Alex nun.
„Hm?", machte Harumi leise und wartete ab, was er zu sagen hatte. Sie wusste nicht, was sie erwartete, und doch war da Furcht in ihrem Inneren, und ... Hoffnung.
Alex' nächsten Worte ließen sie für einige Augenblicke die Luft anhalten. „Willst du mich noch einmal sehen?" Er fragte es so ruhig, beinahe schüchtern, aber dennoch aufrichtig und ehrlich. Und ... unverbindlich. Kein Zwang stand hinter diesem einfachen Satz. Nur eine einfache Frage, die sowohl ein Ja als auch ein Nein zuließ.
Harumi schluckte und schwieg, unsicher, wie sie reagieren sollte. Wollte ich mich nicht endlich zurückhalten? Keine Jungs mehr, kein Freund ... Ihre eigenen Vorsätze zerrissen sie regelrecht. Aber was, wenn das hier eine einmalige Chance ist? Sie wusste es nicht. Und so schwieg sie viel zu lange.
„Ich kann warten", sagte Alex da mit ruhiger Stimme. „Wir können auch erst einmal nur Freunde sein. Uns kennenlernen. Ich mag dich, Haru. Nicht nur, weil du hübsch bist, sondern auch, weil du Humor hast und Charakter, das habe ich sofort bemerkt. Und ... ich möchte dir helfen. Ich lasse dir Zeit, versprochen. Und irgendwann, wenn du soweit bist ..." Er ließ den Satz offen, und es war auch gar nicht notwendig, mehr zu sagen.
Nun konnte Harumi sich nicht länger zurückhalten, sie konnte nicht verhindern, dass ihr ein Schluchzen entrann, und dann flossen bereits wieder die ersten Tränen. Es zerriss sie beinahe, denn die Gefühle, die sie nun übermannten waren ... Rührung und Glück.
„Hey", sagte Alex leise. „Es ist alles gut."
„So jemanden wie dich habe ich gar nicht verdient", brachte Harumi schließlich zwischen zwei Schluchzern heraus und musste im selben Augenblick schon wieder über ihr eigenes Verhalten lachen. „Du bist wirklich unglaublich ..." Sie schniefte und versuchte, ihre Stimme weniger dünn klingen zu lassen. „Ja, ich will dich wiedersehen", sagte sie dann entschlossen.
„Wow. Dass du mir jetzt noch einmal vertrauen willst", meinte Alex und sie hörte das Lächeln, das auf seinen Lippen liegen musste, als er das sagte.
Harumi lachte und wischte die Tränen fort. „Dasselbe könnte ich von dir sagen."
Alex lachte ebenfalls. „Okay. Ich habe morgen frei. Möchtest du dich irgendwo in der Innenstadt mit mir treffen? Woran hättest du Interesse? Im Einkaufszentrum gibt es eine Kegelbahn, und das Kino ist auch nicht weit. Außerdem kenne ich eine super Eisdiele."
Harumi lächelte und atmete tief durch und kritzelte sich auf einen kleinen Block eine Memo, dass sie das Badminton am Mittwochnachmittag canceln musste. „Innenstadt klingt toll", meinte sie dann. „Was wir machen, können wir auch spontan entscheiden, oder?"
„Klar", erwiderte Alex fröhlich.
„Gut, dann ... Morgen um zwei?", schlug Harumi ihm vor, während sie noch immer zu begreifen versuchte, was in den letzten fünf Minuten geschehen war. Sie hätte ihr Glück nicht in Worte fassen können, ihre Erleichterung.
„Natürlich, klar", antwortete Alex. „Gut, danke. Ich freu' mich auf dich."
„Ich mich auch auf dich", erwiderte Harumi. „Und ... danke für dein Verständnis."
„Kein Problem. Ich weiß zwar nicht, wie es dir geht, aber ich verstehe, dass du Zeit brauchst. Jetzt, wo ich das weiß, werde ich dich sicherlich nicht mehr bedrängen."
„Danke", wiederholte Harumi leise. „Gute Nacht, Alex."
„Gute Nacht, Haru. Träum' was Süßes."

Fervent LoveWo Geschichten leben. Entdecke jetzt