Solch süße Träume

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"Ein Tag, der Morgens anfängt, kann nicht mehr gut werden." - Ernest Hemingway

Melissa schlief. Sie mochte es zu schlafen, was paradox war, da sie den Schlaf selbst nicht wahrnahm. Schließlich schlief sie währenddessen. Sie legte sich abends in ihr Bett und machte die Augen zu und irgendwann machte sie sie wieder auf und es war Morgen. Sie mochte den Schlaf, weil sie sich dann keine Sorgen machen musste. Sie hatte keinen Stress, keine bedrückenden Gefühle, keine Sorgen. Einfach nur die entspannende Schwärze. Melissa hatte niemals Albträume, was sie als sehr schön empfand. So störte nichts ihren hochheiligen Schlaf. Stattdessen hatte sie ausgesprochen realitätsferne Träume über sich selbst. Im Augenblick sah sie sich selbst vor einem Spiegel. Sie schwebte in der Luft, so wie der Spiegel, schwebte in einem hellblauen Nichts, kein Oben, kein Unten, einfach nur das luftige Sein. In dem Spiegel sah sie sich selbst. Ihre Haare waren lang und wehten um ihren Hals, obwohl es keinen Wind gab. Sie waren von einer Farbe, die man als Blond bezeichnen konnte, jedoch, im richtigen Licht, waren sie beinahe weiß. So weiß wie das Licht, das sie bestrahlte und erfüllte, ohne einer Quelle zu entspringen. Lange, weiße Haare, die um ihren Nacken wehten.

Ihr Gesicht entsprach dem Bild des schüchternen, aber attraktiven Mauerblümchens, das man in Teeniefilmen der frühen 2000er sehen kann. Die Augen, nah beieinander und ein wenig größer als der Durchschnitt sie haben mochte, waren von einer beeindruckenden Farbe, nämlich hellblau mit einer Reihe spitzer, wie gefroren aussehender Pfeile durchzogen, die wie ein Uhrwerk die Pupille umzogen und auf selbige deuteten. Zwei schwarze Löcher, bewacht von ihren frostigen Lanzenträgern. Ihre Nase war klein und ein wenig spitz, was ihrer allgemeinen Attraktivität zuträglich war. Die Lippen waren schmal und blass, die Folge davon, dass sie sie über Jahre hinweg dauernd fest aufeinander presste. Sie verliehen ihrem Gesicht nun eine edle Blässe, oder doch wenigstens den Anschein einer Solchen. Um ihren Hals kringelten sich die Haare wie seichte, dünne Nebelschwaden, die einen Fels umschmeicheln. Melissa war schlank, schon fast dünn, sodass ihr Schlüsselbein links und rechts des Halses, genauer gesagt zwischen Hals und Schultern, die Haut spannte. Sie sah sich im Spiegel nicht nackt, sondern in ein vortrefflich geschneidertes Kleid gehüllt, dessen Farbe sich so schnell zu ändern schien, dass es letztlich gar keine Farbe hatte. Es spannte leicht über ihren Brüsten, die nur in ihrem Traum eine leicht überdurchschnittliche Größe hatten, lag eng auf ihrem Bauch und öffnete sich von ihrem Becken abwärts zu einem wabernden Fächer. Der Saum hätte knapp über ihren Knöcheln gelegen, doch der komplizierte Schnitt und ihr schwebendes Sein machten es unmöglich, dies zu erkennen. An ihren Armen lag das Kleid wie eine zweite Haut, angenehm warm und sicher, ohne zu verrutschen. Die Ärmel endeten an ihrem Handgelenk. Sie betrachtete ihre Finger, die dünn waren und blass, wie das Meiste ihrer Haut. Die Nägel waren lackiert, in einer grünen Farbe, die genauso gut hätte schwarz sein können. Das wunderte Melissa, da sie ihre Nägel nie lackierte. Ihre Zehen waren von der Bürde, in Schuhen stecken zu müssen, befreit und ebenso blass wie die Finger, jedoch nicht lackiert.

Der Spiegel veränderte seine Position und Melissa nahm sich nicht mehr als Summe verschiedener Puzzleteile wahr, sondern als Ganzes, als Einziges, als ein Wesen von unfeiner Perfektion, wie nur die schönsten Träume sie hervorzubringen vermögen. Kein Makel war an ihr zu finden, keine Kritik, die des Gedankens wert wäre, den man bräuchte, um sie zu formulieren. Melissa lächelte und wachte auf.

Der Morgen ist ein grausames Spiel zwischen Mond und Sonne, eine hässliche Fläche über dem feuchten, kalten Boden. Ein Zelt aus Trübsal und Verzweiflung, angemalt in schalstem Grau und durchtränkt vom Leid der Entitäten aus Feuer und Stein. Der Anblick allein vermag es, den Geist zu trüben und in die endlose Verderbtheit zu stoßen, die ein Leben unter diesem Einfluss mit sich zu bringen bereit ist. Der Geruch der schwindenden, viel zu zaghaft schwindenden Dunkelheit durchzieht Wälder und Felder, Straßen und Wege und pflanzt sein Grauen in jeden Winkel der trostlosen Straßen.

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