Schattenwesen
Sie starrte blicklos aus dem Autofenster. Wären die flüsternden Wesen echt und nicht nur auf der Innenseite ihres Kopfes gewesen, hätten sie sehen können, wie sich der Mond in ihren Augen spiegelte und wie die Schatten der Bäume über ihr Gesicht huschten.
„Vera-Lynn?“ Die Stimme ihrer Mutter, die versuchte gelassen und freundlich zu klingen. Doch sie konnte ihr nichts vormachen. Unter der gespielten Ruhe war Sorge spürbar - die Sorge, dass sie wieder einen ihrer „Momente“ haben könnte. Sie hatte keine Lust zu antworten, oder auf irgendeine andere Weise zu reagieren. Sollte sie doch denken, was sie wollte. Heute war kein guter Tag gewesen.
Vera-Lynn träumte sich zum Mond hinaus, sah ihm zu, wie er neben dem Auto her flog und sie seinerseits beobachtete. Sie stellte sich vor bei ihm dort draußen zu sein und nicht zu fahren, sondern zu rennen – schnell und mühelos durch eine schwarz-weiß-silberne Welt. Kühle Nachtluft würde ihre Lungen füllen und alles leicht und ruhig werden lassen.
„Vera-Lynn, Liebes!“ Ein bisschen gereizter und ungeduldiger jetzt. Sie überlegte, ob sie abwarten sollte, bis ihre Mutter die Beherrschung verlor und sie anbrüllte. Das kam in letzter Zeit immer häufiger vor. Eigentlich nur zu verständlich, wenn man bedachte, dass ihr Mann im Krankenhaus lag und seinen aussichtslosen Kampf gegen den Krebs kämpfte, während ihre Tochter … sie war, wie sie nun mal war.
Mit einem lautlosen Seufzer verabschiedete sie sich von ihren Träumereien und wandte sich um. „Was willst du?“, fragte sie und fühlte einen Hauch von Bedauern, weil es ihr nicht gelang liebevoll, mitfühlend, oder auch nur im entferntesten freundlich zu klingen. Die Bekannten ihrer Mum nannten es die PUBERTÄT, in großen roten Buchstaben, jeder davon dick unterstrichen, aber sie beide wussten, dass ihre Probleme tiefer gingen. Fast so tief wie die Wesen in ihrem Kopf.
„Ich möchte wissen, ob du Hunger hast oder zum Klo musst.“ Stumm wandte sie sich wieder dem Fenster zu, doch ihre Mutter ließ nicht locker. Das tat sie nie. Jetzt legte sie ihr sogar eine Hand auf das Knie. Vera-Lynn erstarrte, machte sich stocksteif und wartete, dass ihr aufging wie unangemessen das war. Die Hand glitt ab und verschwand. Sie stieß einen erleichterten Seufzer aus und das Fenster beschlug. Sie wischte es mit dem Ärmel frei, konnte den Mond aber nicht mehr sehen. Der Wald war näher an das Auto herangerückt und verschlang jedes Licht außer dem der Scheinwerfer.
„Ich brauche jedenfalls eine Pause. Etwas weiter vorn kommt ein Rastplatz. Dort halten wir.“ Was hätte sie dazu sagen sollen? Achselzuckend lehnte sie den Kopf an die Scheibe und versuchte sich vorzustellen, wie das nervtötende Vibrieren, das sie bis in die Zähne spüren konnte, die Schattenwesen in Aufruhr brachte. Wild schossen sie in ihrem Kopf hin und her, schüttelten ihre kleinen Schattenfäuste und verfluchten sie, weil sie sie so quälte. Es war ihr egal. Genauso egal wie ihre Mum und die Pause, die sie jetzt machen würden. Sie wollte nichts essen, nicht zur Toilette, nicht reden und nicht angefasst werden. Sie fragte sich, wie sie überhaupt jemals wieder ein Bedürfnis haben sollte, einen Wunsch, oder ein Gefühl, wenn sie doch wusste, dass ihr Vater sterben würde? Gut, vielleicht ja nicht heute und auch nicht morgen - aber gleich danach wurde alles grau und unsicher. Ein einziger tückischer Sumpf in dem künftiger Schmerz und kommendes Leid lauerten wie Krokodile, die harmlosen Baumstämmen glichen, aber messerscharfe, tödliche Zähne hatten. Fröstelnd schloss sie die Augen. Sie hasste Krokodile!
Ihre Eltern hatten ihr erst nach ihrem Geburtstag sagen wollen, wie ernst es um ihren Dad stand, aber der Arzt hatte ihnen davon abgeraten. Er war sich nicht sicher wie viel Zeit ihnen noch blieb. Ihr dreizehnter Geburtstag war in zwei Wochen, also konnte sie sich selbst ausrechnen, was das hieß. Der Wagen stoppte.
„Willst du nicht wenigstens kurz aussteigen und dir die Beine vertreten?“ Warum konnte sie sie nicht einfach in Ruhe lassen? Gereizt stieß sie die Tür auf und kletterte aus dem Auto. Der „Rastplatz“ war nichts als ein Parkplatz an dessen einer Seite ein paar morsche, bekritzelte Tische und Bänke standen. Der Mond leuchtete so hell, dass man das Geschmiere beinahe lesen konnte. Ihre Mutter sah sich suchend um, murmelte irgendetwas worin das Wort Klo vorkam und ging zielstrebig auf die dunkle Wand des Waldes zu. Vera-Lynn sah ihr unschlüssig nach. Wenn sie gemusst hätte, hätte sie sich ebenfalls eine Stelle im Gebüsch gesucht, aber da sie den ganzen Tag kaum etwas gegessen oder getrunken hatte, gab es keinen Grund für sie durch die Dunkelheit zu stolpern. Langsam schlenderte sie zur anderen Seite des Parkplatzes - dorthin, wo es am hellsten war, und sie den Mond wieder ungehindert sehen konnte. Die Schattenwesen waren zur Ruhe gekommen. Sie bewegten sich kaum noch und wisperten ihr nur hin und wieder eines ihrer kleinen, gemeinen Geheimnisse ins Ohr. Geheimnisse über den Lauf der Zeit, der voller Magie und mal schnell und mal langsam war. Darüber wie rasch sie vorbei glitt, wenn man sie doch eigentlich festhalten wollte. - Geheimnisse über Krokodile und ihre Zähne.
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Creepypasta/Gruselgeschichten
DiversosHier kommen Creepypasta, Horrorgeschichten und Gruselgeschichten. Was man eigentlich am Titel denken kann,glaube ich. Aber ich mache auch Fakten von/über die Creeps. Alle Geschichten u d Fakten finde ich im Internet daher gehören die rechte nicht mi...