Der Feind

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Der Feind

Die Flagge ist auf Halbmast gehisst und umschmeichelt die rostig rote Stange auf den Ruinen eines Gebäudes, dessen Umrisse gewaltige Schatten in der unmittelbaren Umgebung hinterlassen, und dennoch so lächerlich winzig wirken. Dort - inmitten des Nichts, das erbarmungslos über die gähnende Leere herrscht.
Rauch steigt aus sämtlichen Poren der Erde hervor und verfärbt alles so kalt bläulich, wie es nur nach einem gewaltigen Regen beim Morgengrauen aussehen kann. Leider gibt es zu diesem Zeitpunkt weder Regen, noch Morgengrauen. Dafür aber genug Ascheregen und Grauen persönlich, die sich ihre Beute untereinander gerecht aufteilen. Selbst der Wind schleicht sich eher zögernd, geradezu vorsichtig durch die leeren Häuser und offenstehenden Türen, umschmeichelt die Toten nur mit einem sanften Gutenachtkuss, aus Angst, er könne sie aufwecken und ihre Ruhe stören. Er bringt den Stoff dort oben auf dem zerstörten Rathaus zum Tanzen, obwohl nicht der geringste Grund für Freude existiert. Vielleicht würde man irgendwo ein Geräusch hören, wenn man nur lange genug schwieg. Vielleicht würde man ein Lebenszeichen vernehmen, wenn man nur lange genug wartete. Doch für das Warten scheint es bereits zu spät zu sein.

Der Feind hat bereits gesiegt.

Zu spät... :(





Es begann alles irgendwann zwischen März und April, an einem Tag, als die Sonne noch etliche Leute beschien, die sich zu dieser wundervollen Stunde eine Auszeit und vielleicht ein wenig Bräune auf den bleichen Gesichtern gönnen wollten. Ein ganz gewöhnlicher, geradezu langweiliger, dafür jedoch ungewöhnlich warmer Tag, der uns mit mehr Sonne beglückte, als wir jemals erwartet hätten. Gewöhnlich. Gewöhnlicher. Am gewöhnlichsten. Ich weiß nicht mehr WARTE genau, wann es begonnen hatte. Zu welcher Stunde sämtliche Kanäle dieselbe Meldung gebracht hatten. Wann mir diese dämliche Porzellanschüssel aus der Hand gefallen und die Suppe auf dem Herd übergelaufen war.
Doch im Endeffekt ist das ohnehin nicht mehr wichtig. Nichts ist wichtig, weil nichts existiert. Nichts existiert, weil nichts mehr wichtig ist.
Es war eine neue „Stunde 0“.
Der Feind wollte Krieg.
Es war eine Nachricht. Noch dazu eine recht kurze, obwohl das Motiv dahinter nicht in Worte gefasst werden konnte. Morse-Code; direkt weitergeleitet. Sie gaben uns eine simple Wahl: Aufgeben oder Kämpfen. Es gäbe keinen anderen Ausweg. Keine andere Lösung. Kein anderes Entrinnen. Natürlich entschieden wir uns in unserem lächerlichen Patriotismus mit all unserer Macht zu kämpfen, und diese Barbaren zurück hinter ihre Grenzen zu verbannen. Leichtsinnig. Leichtsinniger. Am leichtsinnigsten. Was wir nicht HÖR AUF gedacht hatten, war, dass ein dritter Weltkrieg so gut wie nichts außer Schutt und Asche zurücklassen würde. Vor allem wenn es sich tatsächlich um einen WELTkrieg handelte, bei dem zwei Parteien erbarmungslos gegeneinander antraten, und es keine Außenstehenden mehr gab. Bei dem keine Enthaltungen geduldet wurden. Ein Weltkrieg. Wortwörtlich.

Zuerst kamen die dröhnendsten Dronen dieser Feiglinge, die den tödlichsten Tod über uns fallen ließen. Selbst an den sonnigsten Tagen verursachte der klarste, blaue Himmel nur Angst in den Herzen Jener, die es wagten, ihre Verstecke zu verlassen, trotz dem ausdrücklichen Befehl der Obrigkeit, genau dies nicht zu tun. Dumm. Dümmer. Am dümmsten. Es waren zahlreiche Bomben, und ich wette keiner der Piloten wusste, was unter ihm geschah, wenn er den Knopf drückte, der sie fallen ließ. Denn alle sahen sie weg. Denn alle waren sie blind. Der Himmel war nun nicht mehr ein Symbol der Freiheit, sondern unser ewiges Gefängnis mit Schloss ohne passenden Schlüssel, das man unter keinen Umständen aufbrechen konnte. Wer den Himmel sah würde binnen weniger Sekunden gar nichts mehr sehen können. Tot. Toter? Am totesten?
Es folgten ihre Soldaten. LASS SIE LOSMan sah sie nie ohne ihre Helme, ohne ihre Visiere, ohne ihre Waffen, sodass man irgendwann denken konnte, dass sie keine Gesichter hatten. Dass sie keine Seele besaßen. Sie waren die Monster unserer kühnsten Albträume, und die Albträume unserer kühnsten Monster. Die Kriegsschreie echoten durch die ausgestorben wirkenden Städte, und sie kamen immer näher zu unseren Heimen, bis sie die Kämpfe irgendwann in unseren Vorgärten ausfochten. Bis wir zusehen mussten, wie sie unsere Familien hinrichteten. Wir dachten dennoch nicht ans Aufgeben. In unserem lächerlichen Patriotismus. Lustig. Lustiger. Am lustigsten.
Dann wurde es schlimmer. Gelbes Licht blendete die tapferen Männer und Frauen, die ihr Leben für ihre Nation aufgaben. Wolken, die glänzten wie Smaragd, und Regen, der funkelte wie Rubin, brachten ihre Haut zum Schmelzen und verpesteten ihre Gedanken. Sie lebten weiter, BITTE HÖR AUF in Schmerz, bis zum Morgen des roten Staubes. Ihr Blut begann zu kochen und verdampfte, färbte die Welt außen herum mit karmesinroter Asche.

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