Neunundvierzigstes Kapitel - Eine Frau verschwindet, eine Andere taucht auf

360 33 0
                                    

Ich hatte mich beinah ganz gefasst, als ich zusammen mit dem Chief zurück in den Konferenzraum ging, fest entschlossen mit Sally ein normales Gespräch zu führen, ohne sie anzubrüllen. Doch anstatt dort zwei Frauen anzutreffen, fanden wir lediglich eine vor.

„Wo ist Waters?", fragte ich Price die gerade Jodie Hearts Namen und Steckbrief ans Board schrieb.

„Sie haben Sie gerade verpasst. Sie wollte nach Ihnen suchen. Haben Sie sie nicht gesehen?", antwortete diese, jedoch ohne auch nur einmal ihren Blick von der Arbeit zu wenden.

„Nein. Sie?", wandte ich mich an meinen Boss. Dieser schüttelte zerknirscht den Kopf.

„Vielleicht ist sie nach Hause gegangen", schlug die Agentin vor und zog einen Kreis um Jodie welchen sie anschließend mit einem Fragezeichen versah.

„Das bezweifle ich. Sie wohnt bei mir und hat keinen Schlüssel für die Wohnung", brummte ich und zog mein Handy hervor um Sallys Nummer zu wählen. Im Augenwinkel bekam ich mit wie Price sich zu mir umdrehte.

„Sie hat ihr Angebot also angenommen."

„Ich hatte ihr gesagt entweder ein Hotel mit Wache oder mein Zuhause. Schätze sie hat das gewählt was am wenigsten Arbeit bei uns auslöst", rechtfertigte ich und hielt mir den Hörer ans Ohr um angespannt dem Freizeichen zu lauschen.

„Detektive, schämen Sie sich eigentlich nicht? Ein Mann mit ihrem Job sollte über ein besseres Urteilsvermögen verfügen. Sally Waters hat praktisch Angst vor ihrem eigenen Schatten. Sie hat nicht ihr Apartment gewählt weil es am wenigsten Arbeit macht, sondern weil sie sich bei Ihnen am Sichersten fühlt."

„Mailbox", murmelte ich und legte wieder auf.

„Eine Idee wo sie hingegangen sein könnte?", erkundigte sich Stryder.

Haare raufend überlegte ich angestrengt, kam aber zu keinem brauchbaren Ergebnis.

„Nicht wirklich. Sie will scheinbar alleine sein. Da wird sie an keinen offensichtlichen Ort gehen."

Krampfhaft verkniff ich mir das sie vermutlich nicht allein, sondern einfach nur so weit wie möglich von mir entfernt sein wollte.

„Hat der Pressesprecher schon unsere Meldung rausgegeben?", erkundigte ich mich, felsenfest entschlossen nicht nach ihr zu suchen und ihr den Raum zugeben den sie zu brauchen schien.

„Sie wollen jetzt wirklich arbeiten?", fragte die Profilerin mit hochgezogener Augenbraue. „Das sollte er besser wenn er seinen Job behalten will. Finden Sie heraus was an der Sache mit Heart dran ist", knurrte Stryder und verschwand ohne ein weiteres Wort in sein Büro.

„Sie haben sich doch nicht wirklich wieder mit ihm angelegt, oder?", seufzte Price und griff nach dem Diktiergerät welches nach wie vor auf dem Tisch lag.

„Die Meldung?", ignorierte ich ihre Frage genauso gekonnt, wie sie es mit der meinen getan hatte. „Ist vor einer Stunde rausgegangen. Wer weiß vielleicht haben wir Glück und jemand aus seiner Vergangenheit erkennt ihn. Womöglich sogar Jodies Eltern", kommentierte sie leicht hoffnungsvoll.

„Sie glauben Sally tatsächlich", stellte ich überrascht fest.

„Warum auch nicht? Mir war schon vorher klar, dass man mir etwas über sie verheimlicht. Wenn ich allerdings gewusst hätte was das ist ...", sie ließ den Rest des Satzes in der Luft hängen, genau wie mich und spulte das Tape im Aufnahmegerät zurück zum Anfang.

„Dann?", hakte ich nach, nicht gewillt sie einfach davon kommen zulassen.

„Nun, wenn das alles vorbei ist, was passiert dann mit ihr? Alles was ich sagen will ist, dass sie vielleicht an einer Stelle interessiert wäre."

„Bei Ihnen?", wollte ich unwirsch wissen.

„Warum nicht? Es ist zwar ein Geheimnis das wir immer wieder mit Leuten der besonderen Art zusammenarbeiten, aber für Sie ist das bestimmt keine Überraschung. Sie wäre vermutlich perfekt für diesen Job. Jemand wie sie ist eine unfassbar wertvolle Ressource."

„Ihnen ist schon klar, dass wir hier von einer traumatisierten jungen Frau sprechen", stieß ich zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor.

„Und Ihnen ist schon klar, dass sie trotzdem weitermachen wird. Da kann die genauso gut mit einem Team zusammenarbeiten, dass ihr den Rückenfreihält während sie das tut", erwiderte sie schlicht und drückte auf Play, womit die Unterhaltung offensichtlich für sie beendet war. Für mich war sie das tatsächlich auch. Price hatte Recht. Waters würde nicht damit aufhören wollen anderen zu helfen. Dennoch versetzte mir der Gedanke sie könnte es ohne mich und weit weg von mir tun, einen Stich.

„Was wenn Mason tatsächlich sein richtiger Vorname war?", dachte Agent Price laut und lenkte meine Aufmerksamkeit zurück zur Arbeit die vor uns lag. „Womöglich hat Miss Waters Recht. Der erste Mord war persönlich, aber wenn er ausgebildet wurde, wonach es leider aussieht, hat sein Lehrer ihn vermutlich kein Souvenir behalten lassen."

„Sie glauben er hat seinen Namen als ein Andenken behalten? Ziemlich riskant oder?", ging ich auf den Gedankengang ein.

„Nicht wirklich. Er hatte vor diesen Fällen offensichtlich andere Namen. Also was ist passiert, dass er hierfür wieder seinen eigentlichen angenommen hat? Was ist an den letzten Opfern so besonders gewesen? Worin unterscheiden sie sich von denen davor?"

„Hat er Amanda Clark damals seinen Namen gesagt?", erkundigte ich mich, nicht mehr sicher was alles in welchen Aussagen stand. Price schien ebenfalls keine Erinnerung daran zu haben und schnappte sich eine Akte, in der sie dann suchend blätterte um schließlich zu verkünden:

„Hier steht nichts davon. Am besten wir befragen sie nochmal dazu."

Sie machte einen Vermerk auf einen Post it und klebte ihn vorne auf den Hefter, bevor sie ihn zurück zu den übrigen legte.

„Wenn er ihr seinen Namen nicht genannt hat war's das auch schon wieder mit ihrer Sally Waters bezogenen Theorie. Außer Amanda haben wir niemanden der sie bestätigen könnte", schlussfolgerte sie und seufzte resigniert.

„Es ist immerhin mehr als wir gestern hatten. Allerdings kann ich nicht behaupten, dass mich meine Theorie in irgendeiner Art beruhigen würde. Wenn Keppler wirklich für Waters seinen eigentlichen Namen angenommen hat, will ich vermutlich lieber nicht seine Beweggründe dafür kennen", gab ich zu und ließ das Band zum zweites Mal laufen.

„Mit etwas Glück bringen uns aber genau die zu seinem Komplizen. Wenn Keppler etwas mit ihr vorhatte, weiß der zweite Mann bestimmt Bescheid und steckt knietief mit in der Scheiße. Falls er irgendwelche Vorbereitungen getroffen hat, könnten wir ihn darüber ausfindig machen und endlich drankriegen."

„Und mit richtig Pech finden wir ihn erst Jahre später, wenn er Kepplers Arbeit schon längst fortgesetzt hat", murrte ich und lauschte den Details über Jodie. „Haben Sie schon nach ihr in der Datenbank gesucht?", erkundigte ich mich, zog aber bereits einen Laptop heran.

„Nein. So weit bin ich noch nicht gekommen. Bei unserem Glück wird die Anfrage ewig brauchen bis sie durch sämtliche Verzeichnisse gelaufen ist."

„Dann sollten wir wohl besser damit anfangen. Apropos Kepplers Vermächtnis, sind in letzter Zeit neue Leichen aufgetaucht?", sagte ich und gab die Parameter für die Suche nach Heart ein.

„Auf dem Grundstück? Nein. Nicht in letzter Zeit, aber ich fürchte dass wir noch lange nicht alle Opfer gefunden haben."

„Bestimmt nicht. Der Dreckskerl hatte einen Lehrer, vielleicht hatte der selbst einen und Keppler hat offensichtlich ebenfalls unterrichtet. Fünfzig Überreste sind bestimmt nicht alle. Nicht bei dem Tempo, welches er vorgelegt hat."

„Es ist mir nach wie vor unerklärlich, wie uns so viele Opfer entgehen konnten", flüsterte Price beinah unhörbar.

„Sie haben nicht wirklich etwas gemeinsam. Die Übereinstimmungen sind vermutlich Täter abhängig. Aber da sie fast immer zu zweit gearbeitet haben scheinen, macht es das Finden eines Musters nicht wirklich einfacher."

„Sagen Sie mir nicht, dass sie dieser Grund nachts besser schlafen lässt", meinte sie und ließ sich neben mir auf den Stuhl sinken.

„Nein. Aber es ist trotzdem wahr."

My Long Way To DeathWo Geschichten leben. Entdecke jetzt