Kapitel 6: Gesandter

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"Kommt dir das hier zufälligerweise bekannt vor?"

Vali hielt Narfi demonstrativ den zerknitterten, dunkelgrünen Brief vor die Nase.
Narfi nahm ihn in die Hand und drehte ihn hin und her.
Ein Schatten schien sich über sein Gesicht zu legen und er verengt die Augen.
Gespannt beobachtete Vali, wartete auf ein Zeichen des Erkennens, doch bis auf die Tatsache, dass er plötzlich angepisst schien, kannte Narfi den Brief wohl tatsächlich nicht.
Narfi hatte den Brief nicht geschrieben.
Und jetzt wusste er doch davon. VERDAMMT.

"Wieso sollte ich das kennen? Von wem ist der Brief?"

Scheiße.

"Eh... Ich dachte ehrlich gesagt der wäre vielleicht von dir...", murmelte Vali kleinlaut.

"Ist er nicht.", knurrte Narfi schroff.
"Wenn du mich jetzt entschuldigen würdest: ich bin hier um zu Joggen."
Er drückte Vali den Brief in die Hand.

Oh mein Gott, was war er doch nur für ein Idiot gewesen!
Narfi hatte ihn garnicht verfolgt, er wollte lediglich laufen gehen! Im Park. NA KLAR.
IDIOT.
DUMMKOPF.
Und Vali hatte ihm den Brief gezeigt!

Noch bevor er Narfi befehlen konnte, diese Sache in Zukunft gefälligst für sich zu behalten, hatte dieser sich umgedreht und war davongelaufen.
Mit mulmigen Gefühl im Magen blickte Vali dem schlanken Jungen hinterher, wie er mit gleichmäßigen, langen Schritten davonjoggte.

Was zur Hölle sollte er nun tun?!

Doch bevor er sich darüber groß Gedanken machen konnte, erfasste ihn wieder dieses Gefühl, dieses Stechen im Hinterkopf, als würde ihn jemand beobachten, als würde er dessen Blicke auf der Haut spüren.

Und da war er wieder.
Der Unbekannte, der sich noch bis Gestern immer vor Valis Blicken verborgen hatte.
Was brachte ihn dazu, sich gerade nun hier im Park aufzuhalten?
Sichtbar in Valis Nähe? Am hellichten Tag?

Als ob er unbedingt wollte, dass Vali ihn bemerkte, ihn aber nicht erkannte.

Da es nicht dämmerte, konnte er dieses Mal wenigstens einige Details mehr erkennen:

Schneeweiße Haut, Rabenschwarze, lange Haare.
Der Fremde war groß und schlank, trug einen dunkelgrauen Mantel und hohe, schwarze Stiefel.

Ihre Augen trafen sich, und obwohl der Mann bestimmt 8 Meter von Vali entfernt stand, erkannte er erschrocken ein derart leuchtendes grün-blau, dass er das Gefühl hatte, der Fremde könnte mit diesen Augen direkt durch ihn hindurchsehen.

Wer war das nur?!

Als ihm in diesem Moment plötzlich jemand von hinten auf die Schultern klopfte, zuckte er so heftig zusammen, dass er der Person beinahe reflexartig die Ellenbogen in den Magen gerammt hätte.

"HEY! Beruhig dich. Ich bin's doch nur.", rief Micheal erschrocken, die Hände immernoch auf Valis Schultern ruhend.

Vali war schwindelig geworden vor Schreck und das Adrenalin, das seine Adern durchströmte brachte ihn für kurze Zeit zum Zittern.
In diesem Moment wurde ihm klar, dass er Angst hatte.
Der Mann war nicht nur unheimlich, er jagte ihm richtiggehend Angst ein. Und Narfis merkwürdiges Benehmen hatte die Situation auch nicht verbessert.
Wo ritt er sich da nur gerade rein...?

"Geht's dir gut? Du siehst aus als hättest du einen Geist gesehen.", merkte der Ältere an und musterte Vali besorgt.

Oh wenn du wüsstest Micheal, wenn du wüsstest...

Vali blickte zu dem Punkt hinüber, an dem der Fremde gestanden hatte, doch er war wie vom Erdboden verschluckt.
Enttäuschung durchflutete ihn, denn obwohl er Angst vor dem hochgewachsenen Mann hatte, brannte er doch darauf, zu erfahren, was es mit dem Brief und dem Unbekannten auf sich hatte.

"Ja-ja. Mir geht's gut.", murmelte Vali schließlich und zwang sich zu einem Lächeln.

Micheal runzelte die Stirn, nickte aber. Er schien sich mit Valis Reaktion zufrieden zu geben.

"Was machst du eigentlich so früh hier?", fragte Vali Micheal.

"Das selbe könnte ich dich fragen.", antwortete er schmunzelnd.

So kamen sie nun wirklich nicht weiter!
Unterhalten wollte sich Vali eigentlich auch gar nicht, lieber wollte er Narfi oder dem Mann folgen.
Der Mann musste ebenfalls in Narfis Richtung verschwunden sein, denn in Luft auflösen konnte er sich ja schließlich nicht...oder?

Irgendwas in Valis Kopf schien ihm dort zu wiedersprechen, der Fremde hatte  etwas so unwirkliches an sich, dass er ihm zutraute, auch dies zu können.

"Mike, ich hab ehrlich gesagt keine Zeit ich-"

"-Oh, kein Problem, ich doch auch nicht.", unterbrach Micheal ihn schnell:
"Ich bin hier um ein Projekt für die Schule zu vervollständigen."

Valis Blick blieb an dem Objekt hängen, das an einem Band um Michaels Hals baumelte:
Es war eine professionell wirkende Kamera.
Er fotografierte im Park!

"Ehehe...", machte Vali unsicher, als sie beide unschlüssig an Ort und Stelle stehen blieben und sich gegenseitig musterten.

"Ehm Ja... Dann schüss!", sagte Micheal freundlich, er schien Valis Drang ihn loszuwerden dennoch gespürt zu haben, denn sein Blick wirkte verwirrt.
Vali drehte sich um und ging in die Richtung davon, in die Narfi verschwunden war.

Der Wald, in den Narfi hineingejoggt war, war verhältnismäßig düster und das dunkelgrüne Blattwerk schien vor   Valis Augen zu einer dunklen Masse zu verschmelzen.
Umso mehr erschreckte er sich, als  ihm nach einigen Minuten des Herumirrens Narfi entgegengestürzt kam.

Narfis Augen waren gerötete, rote Schriemen wie von einer Ohrfeigen zierte seine rechte Wange und er stolperte wie auf der Flucht vorwärts.

Vali vergaß für einige Sekunden wie man Atmete.

"Narfi! ", würgte er schließlich hervor, sein Herz schien förmlich zu galoppieren.
Hatte er sich geprügelt? Oder war er beim Laufen gestürzt?

"Geh!", keuchte Narfi und schubste ihn in die Richtung aus der er gekommen war.

"was...", begann Vali erneut, doch Narfi versetzte ihm mitten im Satz so einen kräftigen Stoß, dass er zurücktaumelte und beinahe zu Boden ging.
Den Rest des Satzes verschluckte er dabei.

Was war nur in ihn gefahren? Normalerweise hätte Vali ihm nun eine sarkastische Antwort ins Gesicht geschrien, doch Panik blitzte in Narfis Augen und das ließ Panik in ihm selbst auflodern. Im wurde heiß und kalt zugleich und für einen kurzen Moment bezweifelte er, dass er sich jemals wieder vom Fleck bewegen könnte.

"GEH. JETZT.", Knurrte der Junge mit den Eisaugen und irgendetwas in Vali löste sich, Adrenalin schoss ihm durch die Adern und er nahm die Beine in die Hand und rannte.
So schnell er nur konnte.
Weg von Narfi, mit seinen gruseligen Augen und den Verletzungen, weg von dem, was dort im Wald lauert und ihn so zugerichtet hatte.

Kurz vor Ende des Waldes, man konnte schon das morgendliche Sonnenlicht durch die sattgrünen Blätter scheinen sehen, holte Narfi den Jungen schließlich wieder ein und im Gleichschritt verließen beide diesen so finsteren Wald.

"Was auch immer du glaubst gesehen zu haben...", begann Narfi, doch Vali konnte ihm nur zur Hälfte zuhören.
Viel zu sehr echoten ihm seine sich überschlagenden Gedanken im Kopf herum.

Narfis Verletzungen waren verschwunden. Keine Blutreste, kein Kratzer, keine gerötete Haut war übrig.
Wie war das möglich?

Narfi musste doch etwas mit der ganzen Sache zu tun haben. Irgendetwas an ihm roch gewaltig nach Ärger!

"Wer bist du?", war das einzige, was Vali in diesem Moment hervorbrachte.
Narfis Gesichtszüge verhärteten sich angespannt:

"Loki schickt mich."

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Neues Kapitel, yeizzz😊 oh oh, Narfi ist wohl doch nicht so unwichtig wie er anfangs zu sein schien...

Lokison- WolfheartedWo Geschichten leben. Entdecke jetzt