Kapitel 2

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3 Monate später

»Träumen Sie noch oft von dem Überfall?«

Meine Therapeutin betrachtet mich über ihre randlose Brille mit einem neutralen Blick. Ihre dunkelbraunen Augen verraten mir nichts über ihre eigene Stimmung. Sie sind urteilsfrei und ruhig. Dennoch fällt es mir schwer, auf ihre Frage ehrlich zu antworten.

»Nicht mehr so oft«, sage ich ausweichend und fummle an einem losen Faden an meinem Ärmel herum. Wenn ich weiter daran ziehe, löst sich die Naht.

»Was ist mit den Schatten?«, fragt Dr. Cohen weiter und ich zucke kurz zusammen. »Sehen Sie sie noch?«

Ich hasse diese Frage. Sie stellt sie mir jede Woche und wirkt jedes Mal enttäuscht über meine Antwort. Man sieht es ihr nicht sofort an, da sie als professionelle Therapeutin keine Regung zeigt, doch das leichte Zucken um ihre Mundwinkel verrät sie. Diese Schatten scheinen ihr mehr zuzusetzen als mir. Ich hasse mich dafür, dass ich ihr überhaupt davon erzählt habe. Wieso habe ich das getan?

Weil die Schatten anfingen, mit mir zu sprechen und mir das eine Scheißangst einjagt.

Sie sind überall. Die Schatten hängen sich an Menschen wie dunkle Umhänge und flüstern aus der Dunkelheit auf mich ein. Manche sind so finster wie die Nacht, andere grau und stürmisch und wieder andere nur gräulich wie Nebel. Ich weiß nicht, was sie bedeuten oder warum ich die Einzige bin, die sie sehen kann. Ich weiß nur, dass es nach dem Überfall in der Gasse angefangen hat. Und ich will das es aufhört.

»Amara?« Dr. Cohen lenkt meine Aufmerksamkeit auf sich und betrachtet mich fragend. »Die Schatten?«

Ich seufze. »Ja, ich sehe sie noch.«

Sie nickt und schreibt etwas auf den Notizblock, der auf ihrem Schoß liegt. »Sprechen sie noch zu Ihnen?«

Zögerlich nicke ich und weiche ihrem Blick aus.

»Was sagen die Schatten zu Ihnen?«, will sie wissen.

»Ich weiß es nicht«, antworte ich und fühle mich unwohl dabei, über die Schatten zu sprechen. Da ich jedoch weiß, dass Dr. Cohen mich ansonsten wieder nach dem Jungen fragt, zwinge ich mich zum Weitersprechen.

»Es ist weniger so, dass die Schatten mit mir sprechen«, gebe ich zu. »Sie flüstern.«

»Und was flüstern sie?« Dr. Cohen setzt sich aufrechter hin und wartet geduldig auf meine Antwort. Ihren Kugelschreiber hält sie bereits im Anschlag, als wüsste sie, dass ich gleich etwas sage, was uns in meiner Therapie weiterbringt.

»Ich weiß es nicht«, sage ich wieder und seufze. Ich ziehe an einigen Haarsträhnen, die sich aus meinem Pferdeschwanz gelöst haben. Die hellblonden Locken waren heute Morgen nicht anders zu bändigen. »Es sind zu viele Stimmen, als dass ich sie verstehen könnte. Sie sind ungeduldig und zu schnell.«

»Wie fühlen Sie sich, wenn Sie die Stimmen hören?«

Als wäre ich verrückt.

»Ein wenig unsicher«, sage ich stattdessen. »Irritiert und vielleicht verängstigt.«

»Vielleicht?« Der Kugelschreiber kratzt über das Papier ihres Notizblocks. »Sie sind nicht mehr beunruhigt, wenn Sie die Stimmen hören?«

»Doch, schon«, sage ich schulterzuckend. »Aber es ist ja nicht so, dass die Schatten mir etwas antun können.« Nicht so wie dieses Wesen, das aus den Schatten herauskam. »Ich bin nicht verrückt.«

Irgendwie ist es mir wichtig, dass sie das weiß.

»Sie wissen, dass ich dieses Wort nicht mag, Amara.«

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