Kapitel 10

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»Was hast du gerade gesagt?«, frage ich stirnrunzelnd, weil ich glaube, mich verhört zu haben.

Das rothaarige Mädchen am Tisch neben mir zieht eine perfekt geformte Augenbraue hoch und wiederholt beinahe gelangweilt: »Ich kann dich nicht leiden. Setz dich woanders hin.«

Okay, ich hatte mich wohl doch nicht verhört.

Ich lasse den Stuhl, auf den ich mich eben setzen wollte los und drehe mich vollständig zu ihr um. Sie ist größer als ich, das erkenne ich trotz ihrer sitzenden Position. Die langen rostroten Haare trägt sie in einer kompliziert aussehenden Flechtfrisur und sie ist ziemlich stark geschminkt für jemanden, der noch auf die Highschool geht. Ihre langen Beine stecken in teuer aussehenden grauen Overknees und passen perfekt zu dem grauen Kleid, das ihre Kurven umschmeichelt. Wenn sie mich nicht so finster anstarren würde, würde ich ihr glatt ein Kompliment machen.

Sie sieht toll aus, aber ihr Blick könnte Tote wiedererwecken, nur um sie gleich noch einmal tot umfallen zu lassen. Irgendwie macht sie das weniger attraktiv.

Und irgendwie werden mir ihre Worte erst jetzt richtig bewusst. Hat sie das eben wirklich zu mir gesagt?

»Setz dich woanders hin, Kleines«, wiederholt sie noch einmal abfällig und mustert mich wie ein Insekt, das soeben auf ihre frisch geputzte Windschutzscheibe geklatscht ist.

Wofür hält die sich eigentlich? Am liebsten würde ich ihr sofort die Meinung geigen, halte mich aber zurück. Ich will an meinem ersten Tag keinen Kleinkrieg beginnen. Das Schuljahr ist noch lang genug, um sich Feinde zu machen.

Also schlucke ich die feindseligen Worte hinunter, die bereits in meiner Kehle aufsteigen und straffe die Schultern. »Es freut mich auch, dich kennenzulernen. Vielen Dank für die herzliche Begrüßung. Ich fühle mich gleich willkommen.«

Gegen den bitteren Sarkasmus komme ich nicht an, aber immerhin habe ich ihr nicht in das hübsche Gesicht geschlagen. Ich wette, ihre Nase sähe nicht mehr so perfekt aus, wenn sie auf die doppelte Größe angeschwollen wäre.

Augenrollend will ich mir einen anderen Platz suchen, weit weg von ihr, doch die schneidende Stimme des Mädchens hält mich zurück. »Du wirst nur Probleme machen.«

Ich bleibe stehen. Mit zusammengebissenen Zähnen drehe ich mich noch einmal zu ihr um und bemühe mich um einen ruhigen Tonfall, als ich frage: »Entschuldige, aber habe ich dir irgendetwas getan? Du kennst mich doch gar nicht.«

Ihr mörderischer Blick wird überheblich. »Ich muss dich nicht kennen, um zu wissen, dass ich dich nicht leiden kann. Ich weiß auch so, dass du ein klassischer Problemfall bist.«

Ich konnte es noch nie leiden, wenn man mich als Problemfall bezeichnete. Innerlich brodelt heiße Wut in mir hoch und nur der Gedanke an Lauren und mein Vorsatz, die alte Amara hinter mir zu lassen, verhindern, dass ich ihr nachgebe und mich mit ausgefahrenen Krallen auf die rothaarige Zicke werfe.

Was bildet die sich eigentlich ein?

Glaubt sie, nur weil ich neu bin, kann sie so mit mir reden? Hat sich vielleicht schon herumgesprochen, dass Lauren nicht meine richtige Mutter ist? Ich habe mit Reaktionen darauf gerechnet, aber diese Feindseligkeit überrascht selbst mich.

Bevor ich sie darauf ansprechen - oder sie mit etwas bewerfen - kann, betritt Mr. Flash den Raum und bittet alle um Ruhe. Als er mich sieht, zieht er die buschigen Augenbrauen hoch und scheint sich zu fragen, was ich hier zu suchen habe. Erst nach ein paar Sekunden leuchtet Erkenntnis in seinen brillenumrandeten Augen auf und er winkt mich ungeduldig zu sich.

»Amara Young?«, fragt er. Er durchforstet einen chaotisch aussehenden Ordner bis er ein gelbes Blatt zwischen den weißen entdeckt. Triumphierend hält er es hoch und sieht mich lächelnd an. »Die Literaturliste«, erklärt er. »Es ist keine Pflichtlektüre, aber falls du an einer Eins interessiert bist, schadet es sicher nicht, ein paar Titel gelesen zu haben.«

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