9. Kapitel

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Nina schreckte auf. Alle Lichter im Zug waren erloschen, die Bahn stand mitten auf einer Strecke irgendwo im Nirgendwo. Rings herum nur weites Land und abgeerntete Felder. Es war stockfinster, sie konnte die Hand vor Augen nicht sehen. Ein Schaudern lief ihr über den Rücken.
Türen knallten, Stimmen hallten durch den Gang.
Ein Fluchen von der Bank ihr gegenüber verriet Nina, das Lewin erwacht war. Sie hörte, wie Stoff raschelte und wie er leise unverständliches Zeug vor sich hinmurmelte. Er war nicht mehr als Dunkelheit, die sich bewegte.
Sie selbst saß ganz ruhig da, wartete auf das, was im nächsten Moment geschehen würde.
Der Zug hatte eine Panne, redete sie sich ein. Nichts schlimmes, Stromausfall, ein falsch gestelltes Signal... irgendwer würde kommen und Kerzen verteilen...
»Nina? Bist du da?« fragte Lewin in die Schwärze hinein.
Sie nickte, dann fiel ihr ein, dass er sie gar nicht sehen konnte und flüsterte: »Was geht hier vor?«
»Ich weiß es nicht«, erwiderte er und fluchte erneut. »Wo ist das verdammte Feuerzeug?«
Plötzlich ertönten Schreie. Sie waren anders, als die Rufe, die zuvor durch die Gänge gehallt waren, schriller und voller Panik.
Ein Knall ertönte. Nina fuhr heftig zusammen und schlang unwillkürlich den Mantel enger um sich.
»Lewin?« wisperte sie mit rasendem Herz.
Es war ganz still geworden, als habe die Schwärze jedes Geräusch geschluckt. Schweigen hing über dem Gang.
»Ich bin da«, flüsterte er nur.
Sekunden verstrichen elend langsam.
Ninas Atem zitterte. Ihr war kalt, sie knöpfte den Mantel zu und versuchte sich weiterhin einzureden, dass alles gut war.
Doch nichts war gut, das wusste sie selbst. Das hier war kein Unfall und auch kein Stromausfall. Das hier war...
Plötzlich durchriss ein ohrenbetäubender Knall die Stille und einen Moment später breitete sich der Geruch von Verbranntem aus.
Sie zuckte zusammen und kämpfte gegen die aufkommende Panik an. Das Blut rauschte in ihren Ohren.
Jemand schrie etwas.
Lewin fluchte und sprang auf.
»Wir müssen weg«, hauchte er und nahm ihre Hand in seine. Seine Haut war eiskalt und seine Finger bebten. Er hatte genauso große Angst wie sie und das beunruhigte Nina noch mehr. Aufgeregt versuchte sie ruhig zu atmen. Noch war nichts geschehen, noch konnte tatsächlich alles gut werden.
In jede Situation, in die sie bisher mit ihm geraten war, hatte er stets den Überblick behalten, gewusst, was zu tun gewesen war... Jetzt waren sie beide völlig orientierungslos.
Lewin schob die Abteiltür auf und langsam schlichen sie den Gang entlang. Nina konnte die Hand vor Augen nicht sehen – die Schwärze presste sich wie eine Decke auf ihr Gesicht.
Vorsichtig tasteten sie sich vorwärts.
Ninas Sinne waren geschärft, ihr Körper angespannt, schien jedes noch so kleine Signal, noch so leise Geräusch in sich aufzunehmen. Das Quietschen der Räder des Zuges, das Knarren ihrer Schritte auf dem Boden... Ihre Nerven waren zum Zerreißen gespannt, die Stille war ohrenbetäubend. Sie hatten Glück, waren sie allein im Gang.
Irgendwo fing ein Kind an zu weinen und dieses Geräusch der Normalität ließ sie aufatmen.
Sie schienen sicher zu sein. Jetzt, wo es nicht mehr so gespenstisch still war.
Plötzlich stieß Lewin einen unterdrückten Schrei aus und Nina fuhr heftig zusammen. Jemand riss ihn von ihr weg. Sie hörte ein Keuchen, konnte Eine kalte Hand drückte ihre und im nächsten Moment hielt sie den Koffer in der Hand. Blanke Panik schoss durch ihre Adern. Sie kniff die Augen zusammen, versuchte zu erkennen, was hier vor sich ging, in welche Richtung Lewin verschwunden war, doch es war unmöglich. Sie war allein. Lewins Nähe war verschwunden und der Atem des Unbekannten hatte sich aufgelöst.
Vor und hinter ihr lag nichts als Dunkelheit und Geräuschlosigkeit.
Das Kind war verstummt.
Mit dem Koffer in der Hand machte sie einen Schritt vorwärts. Ihr Herz schlug so laut, dass sie das Gefühl hatte, jeder im Zug und in unmittelbarer Nähe, musste es hören und sie verraten. Jeden Moment würde sie jemand packen ...
Da waren keine Schritte, keine gedämpften Stimmen, kein Rascheln, kein Knirschen.
Sie lauschte in die Stille und ihrem eigenen Herzrasen. Ihre Gedanken begannen wieder zu arbeiten, die Panik wich langsam von ihr. Lewin hatte sich in Luft aufgelöst. Es gab nur den Weg geradeaus und zurück...
Der Koffer wog schwer in ihrer Hand, es war, als würde er ein bedrohliches Ticken von ihm ausgehen, als wäre sie mit einer Zeitbombe unterwegs.
Nina musste den Zug verlassen. Die Gefahr war immer noch in unmittelbarer Nähe und solange sie den Koffer hielt, war sie das Ziel. Vielleicht war Lewin draußen und wartete auf sie. Vielleicht war sie wieder einmal Teil eines seiner intriganten Pläne um die Miliz an der Nase herumzuführen.
Sie schlich vorwärts, darauf bedacht, keinen Ton von sich zu geben, zu stolpern oder an irgendetwas zu stoßen, das sie verraten konnte. Ihre Schritte knirschten auf dem Boden, sie hielt den Atem an. Das Blut rauschte in ihren Ohren.
Nach einer gefühlten Ewigkeit erreichte sie die Tür. Sie war geöffnet, ein kalter Wind wehte hinein und strich ihr über die Wange. Für einen winzigen Augenblick hielt sie inne, dann begann sie, die Stufen hinunter zu klettern.
Das Metall war kalt unter ihrer Hand, ihre Finger schweißfeucht. Mehrfach drohten sie wegzugleiten, fast verlor sie das Gleichgewicht. Nina atmete auf, als sie festen Boden unter den Füßen hatte.
Das Feld lag in einem silbernen, zauberhaften Licht da, der Mond schien voll vom Himmel, die Wolken hatten sich verzogen und die Nacht war sternenklar und klirrend kalt.
Nirgendwo war Lewin zu sehen, keine Gestalt die auf sie zu kam, winkte und ihr sofort wieder den Koffer abnehmen wollte.
Sie entfernte sich einige Schritte vom Zug, während eine ganz andere Angst in ihr aufkam. Sie hatten ihn entführt. Nach all den Jahren hatten sie es endlich geschafft...
Nina blickte zurück zum Zug. Sie sah einige Gestalten, die an ihm entlang huschten, als suchten sie nach etwas – oder jemanden.
Vielleicht war es das Zugpersonal, das etwas reparierte, damit das Licht wieder funktionierte.
Es war merkwürdig, wie ihr Gehirn verzweifelt versuchte, eine rationale, eine normale Erklärung für all das zu finden. Sie beobachtete die Gestalten, die wie lebendige Schatten umher huschten.
Es könnten genauso gut Mitglieder der Miliz sein, die nach ihr suchten.
Nina musste verschwinden.
Aber sie konnte Lewin nicht einfach hier zurücklassen, nicht nach allem, was er für sie auf sich genommen hatte. Nina öffnete den Mund, um seinen Namen zu rufen, doch kein Laut kam ihr über die Lippen.
Im Grunde wusste sie, was zu tun war. Nicht umsonst hatte er ihr den Koffer gegeben.
Leise, um die Aufmerksamkeit nicht auf sich zu ziehen, bewegte sie sich durch das Feld. Noch nie hatte sie ein so schlechtes Gewissen gehabt. Sie ließ Lewin, einem Menschen dem sie vertraute, einfach zurück, ohne zu wissen, ob er lebte oder nicht... Sie schluckte schwer. Seit Jahren schaffte er es, am Leben zu bleiben – warum sollte er ausgerechnet heute sterben? Verzweifelt strich Nina sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht.
Man konnte nicht ewig Glück haben...
Der Wind raschelte im Unkraut, doch ihr wäre es lieber gewesen, wenn Getreide hoch gewachsen wäre. Es hätte sie ohne Schwierigkeiten verschluckt und unsichtbar gemacht.
Die Erde knirschte unter ihren Füßen, doch mit jedem Schritt, den sie sich vom Zug entfernte, wurde sie ruhiger.
Wie konnte ein Mensch einfach von der Dunkelheit verschluckt werden?
Sie hatte nicht einmal das leiseste Flüstern von ihm gehört... Ein Schaudern lief ihr über den Rücken. Wenigstens war kein Schuss gefallen...
Im Mondlicht konnte sie noch die Silhouette der Eisenbahn sehen.
Einen Knall hätte sie sicher gehört – oder war sie schon außer Hörweite? Auch Schreie wäre nicht an ihr vorübergegangen... oder?
Sie wusste es nicht, sie wusste nicht, wie weit sie schon fort war.
Ihr Herz schlug ängstlich in ihrer Brust und obwohl sie dem schneidigen kalten Wind schutzlos ausgeliefert war, standen ihr Schweißperlen auf der Stirn.
Nina wusste nicht, was sie tun sollte, ihre Gedanken rasten und brachten sie dennoch keinen Schritt weiter. Was, wenn Lewin doch ihre Hilfe brauchte? Wenn er bloß rein instinktiv gehandelt hatte um den Koffer zu retten? Was würde er nun von ihr erwarten – was würde er an ihrer Stelle tun?
Unschlüssig blieb sie stehen. Der Koffer war schwer, doch sie stellte ihn nicht ab.
Lorena hatte gesagt, dass Lewin sich nicht umbringen lassen sollte...
Sie schluckte. Vielleicht sollte sie versuchen, Kontakt mit ihr oder Jeremias aufzunehmen... Vielleicht konnten sie ihr helfen.
Aber vielleicht blieb dazu gar keine Zeit...
Zögernd ging sie weiter. Irgendwann sah sie die Eisenbahn nicht mehr, wenn sie über die Schulter zurückblickte. Wachsam schaute sie sich um. Auf einmal hatte sie das unbestimmte Gefühl, nicht mehr allein zu sein. War da nicht das Knirschen von Schritten?
Sie blieb stehen, hielt den Atem an, kniff die Augen zusammen und blickte sich um. Sie wartete auf eine Bewegung, eine Gestalt die sich auf sie stürzte. Ihr Herz hämmerte nervös gegen ihre Rippen, die Anspannung war unerträglich. Ein Rascheln. Sanft strich der Wind durch das Gras.

Die SchneiderinWo Geschichten leben. Entdecke jetzt