6. Kapitel

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Stumm liefen sie die Treppe hinab. Lewin sagte kein Wort und schaute sie nicht an.
Nina war nervös.
Sie wusste nicht, was in ihm vorging, doch sie wünschte, er würde etwas sagen. Sie wissen lassen, dass es ihn wirklich nicht störte, dass sie vorerst bei ihm blieb.
Als sie auf die Straße traten, bog Lewin nach links ab.
Es hatte begonnen zu schneien. Die Flocken fielen auf den Gehsteig und hinterließen auf dem grauen Schneematsch weiße Flecken.
Nina zog sich die Kapuze über den Kopf, die fast ihr ganzes Gesicht bedeckte.
»Lewin?« fragte sie, als er nach mehreren Minuten immer noch nichts sagte.
Er sah sie an. Seine Miene war verschlossen, sie konnte seine Gedanken nicht einmal im geringsten erahnen.
»Ist es...«, sie zögerte und biss sich auf die Lippen. »Ist es in Ordnung?«
Er zuckte mit den Schultern.
»Lorena kann nicht über dich entscheiden«, antwortete er.
Nina ballte die Hände in den Jackentaschen zu Fäusten.
»Wenn du nicht möchtest, dass ich dich begleite, dann kann ich gehen«, sagte sie eilig. Das schlechte Gewissen, die Angst ihm zur Last zu fallen, zeichnete sich in ihrem Gesicht ab.
Lewin lachte freudlos auf. »Wohin? Die Miliz findet dich überall.«
Nina legte die Stirn in Falten. »Das glaube ich nicht«, erwiderte sie trocken.
Sie könnte das Land verlassen, irgendwo hin gehen, wo sie niemanden kannte. Vielleicht wäre das nicht einmal eine schlechte Idee – irgendwo ein neues Leben anzufangen, das Alte hinter sich zu lassen.
»Im Grunde ist es deine Entscheidung. Fakt ist, dass es bei mir tatsächlich gefährlicher ist, als bei Lorena. Deshalb bin ich ständig unterwegs.«
Nina nickte nachdenklich.
»Wohin gehen wir jetzt?« wollte sie zaghaft wissen.
Lewin zuckte mit den Schultern. »Ich habe keine Ahnung«, antwortete er ehrlich. »Wenn du irgendeine Idee hast...«
Sie schluckte, wusste nicht, ob da Spott in seiner Stimme lag.
Auf ihrer Zunge lagen noch so viele Fragen, doch sie traute sich nicht, auch nur eine davon zu stellen.
»Lass uns an die Küste fahren«, schlug Lewin plötzlich vor. »Ich glaube nicht, dass sie uns dort so schnell finden.«
Nina blinzelte. »An die Küste?« wiederholte sie ungläubig. »Ist das nicht etwas weit?«
Er zuckte mit den Schultern. »Sicher«, meinte er. »Aber alles ist weit – egal wohin wir fahren.«
Nina nickte, auch wenn sie nicht unbedingt das Interesse hatte, die Nacht wieder in einem Zug zu verbringen. Doch es war ihre Entscheidung, ob sie noch einige Tage bei ihm bleiben wollte... und die hatte sie bereits getroffen.

Die Zugfahrt verlief friedlich. Nina schlief die meiste Zeit, oder starrte blicklos aus dem Fenster. Irgendetwas stand zwischen ihnen, ohne dass sie benennen konnte, um was es sich handelte.
Am Abend des nächsten Tages erreichten sie Wilmington, North Carolina, eine Kleinstadt an der Küste, in der sich vermutlich niemand ernsthaft für sie interessierte – wenngleich die Erscheinung einer fremden jungen Frau und eines unbekannten Mannes zu dieser Jahreszeit doch eher ungewöhnlich war.
Im Vergleich zum Frost in Chicago war es hier angenehm mild, doch ein heftiger Wind wehte und statt Schnee fiel Regen.
Lewin war noch schweigsamer als zu Beginn der Reise. Seit sie den Zug verlassen hatten starrte er nur noch finster vor sich hin, das feine Lächeln, dass immer in seinen Augen lag, war verschwunden. Er war wie ausgewechselt.
Auf die Frage, ob irgendetwas geschehen war, reagierte er nur mit einem Kopfschütteln.
Die Unterkunft nahe am Strand, in der sie Quartier bezogen, war fast leer, außer ihnen war nur noch ein junges Paar und ein alter Mann anwesend, der den ganzen Tag Pfeife rauchend in der Kneipe auf der gegenüberliegenden Straßenseite saß. Niemand nahm Notiz von ihnen.
Nina hatte das Gefühl, sich bei Lewin entschuldigen zu müssen, doch sie fand keine passenden Worte.
Lewin sprach nur das Nötigste mit der Wirtin und Nina ignorierte er gänzlich. Sowie die Wirtin Mrs. Hampton, ihm den Schlüssel für ein Zimmer in die Hand drückte, verschwand er.
Ein wenig ratlos blickte Nina ihm nach.
»Da haben Sie aber eine ausgesprochen nette Reisebegleitung«, sagte Mrs Hampton und riss Ninas Aufmerksamkeit auf sich.
Sie hob die Schultern. »Lassen Sie ihn, so schlimm ist er nicht«, erwiderte sie nachdenklich.
Mrs Hampton musterte sie skeptisch. Nina entging nicht, wie sie abschätzend die Nase rümpfte.
Schließlich drückte sie ihr einen kleinen Schlüssel in die Hand. »Hinten rechts«, sagte sie schroff und deutete den selben schmalen Gang herunter, in dem Lewin verschwunden war, von dem links und rechts Türen abgingen.
Nina bedankte sich und ging langsam den Flur entlang.
Ihr Zimmer war kalt und zugig.
Sie ließ sich erschöpft auf das Bett sinken, von dem sie einen wunderschönen Blick auf das Meer hatte. Ihre Glieder schmerzten von der langen Fahrt. Stundenlang im Zug sitzen, drückendes Schweigen über ihnen, aussteigen, warten, weiterfahren, wieder stundenlang sitzen...
Es klopfte.
»Herein!« rief sie müde.
Lewin stand in der Tür. Er war blass, unter seinen Augen lagen tiefe Schatten.
»Kommst du mit an den Strand?« wollte er von ihr wissen.
Etwas hinderte sie daran, sofort den Kopf zu schütteln. Vielleicht war es seine Stimmen, die seltsam gebrechlich klang, überhaupt nicht so entschlossen wie sonst.
Nina griff nach Jeremias' Mantel und folgte ihm nach draußen. Der Wind schlug ihr feucht ins Gesicht und sie senke den Kopf.
Lewin schien das schlechte Wetter nichts auszumachen. Er eilte ihr voraus und sie fragte sich, warum er sie gebeten hatte, ihn zu begleiten.
Lewin hatte beide Hände in den Jackentaschen vergraben und starrte vor sich auf die Straße. Es war das erste Mal, seit sie ihn kannte, dass er ohne dem Koffer unterwegs war.
Sie gingen einen schmalen Pfad über die Dünen, die von trockenem Gras bewachsen waren. Der Wind wurde stärker und peitschte ihnen schwere Regentropfen ins Gesicht.
Nina hatte einen salzigen Geschmack auf den Lippen.
Auf dem höchsten Punkt der Dünen blieben sie beide, wie im stillen Einvernehmen, stehen und starrten nach unten auf die endlosen Weiten des Meeres. Links und Rechts ragten steile, kantige Felsen ins Wasser, doch vor ihnen war der feuchte Sand so weit abschüssig, dass man leicht zum Wasser gehen konnte.
Die Wellen schlugen beständig an den Strand, brachen an den Felsen und dieses Rauschen erfüllte Nina mit einer inneren Ruhe, die sie seit mindestens einem Jahr nicht mehr gefühlt hatte.
Langsam ging sie weiter, näher an das Wasser und starrte an den Horizont, wo die Wolken auf die graue Oberfläche des Wassers stießen.
Sie scharrte mit den Füßen im Sand, fand einen schwarzen, glatt geschliffenen Stein, hob ihn auf und betrachtete ihn in der Hand.
Ein feines Muster aus hellgrauen Kreisen zog sich über ihn und erinnerte sie seltsamerweise an das Modell des Universums aus der Schule vor vielen Jahren.
Mit einem Lächeln auf den Lippen, ließ sie den Stein in ihre Manteltasche gleiten.
Lewin stand einige Meter von ihr entfernt, doch als er merkte, dass sie ihn beobachtete, kam er zu ihr.
Seine Haare waren zerzaust vom Sturm und feucht vom Regen. Ein wenig erinnerte sein Anblick an den Moment, als er zum allerersten Mal in ihre Schneiderei gestolpert war.
Eine Zeit lang standen sie einfach schweigend nebeneinander, dann begann er zu sprechen und seine Stimme wurde beinah vom Wind davon getragen und klang dennoch so deutlich an ihr Ohr.
»Erzähl mir von Noah.«
Das Meer rauschte in ihren Ohren, doch ihre Gedanken blieben vollkommen klar.
»Warum?« fragte sie und verschränkte die Arme vor der Brust.
Lewin zuckte mit den Schultern.
»Bitte«, sagte er nur.
Nina warf ihm einen langen Seitenblick zu. Sie wusste nicht, ob sie über Noah reden wollte. Jetzt.
»Hätte es ihm hier gefallen?« fragte Lewin irgendwann.
Nina zögerte kurz mit der Antwort, dann nickte sie.
»Ich glaube schon«, antwortete sie leise.
Sie hatte einen Kloß im Hals.
Schweigen.
Nina hing ihren Gedanken nach, überlegte, wie es gewesen wäre, mit Noah an Lewins Stelle hier zu stehen. Er wäre begeistert von den Felsen gewesen, er hätte stundenlang am Strand entlang wandern können.
»Wir waren nie am Meer«, sagte sie leise. »Wir hatten es vor, aber...«
Ihr versagte die Stimme.
»Wir waren nur zwei Jahre miteinander verheiratet«, fuhr sie fort. »Es fühlt sich an wie eine Ewigkeit, aber gleichzeitig sind zwei Jahre einfach nichts! Wir hatten so viele Pläne und die wenigstens davon konnten wir umsetzen.«
Sie wusste nicht, ob Lewin ihr zuhörte und es war ihr auch egal. Die Worte sprudelten einfach aus ihr heraus und wurden vom Wind und vom Meer davon getragen. Niemand außer Lewin würde je von diesem Gespräch erfahren.
»Warum ist er gestorben?«, fragte sie leise. »Warum sterben Menschen, die noch das ganze Leben vor sich haben?«
Lewin antwortete nichts.
»Wie hast du ihn kennengelernt?« wollte er irgendwann wissen, als sich ihre Worte fast im Schweigen verloren hatten.
Hätte ein anderer sie das gefragt, hätte Nina ihn vermutlich für schamlos neugierig oder pietätlos gehalten, doch von Lewin klang es überhaupt nicht neugierig.
Das Bild des Meeres verschwamm vor ihren Augen und in Gedanken stand sie wieder in der Schneiderei, als diese noch von ihrer Tante Lauren geführt wurde.
Ein junger Mann, gut gebaut, mit dunklen Augen und einem unglaublichen Funkeln in den Augen, betrat den Laden. Als sich ihre Blicke trafen, schlich sich ein Lächeln auf seine Lippen und sie erwiderte es schüchtern.
Tante Lauren gab ihr den Auftrag, den Kunden zu bedienen, doch irgendwie schien sie die besondere Verbindung der beiden zu spüren, denn sie beobachtete Nina mit Argusaugen, während sie Maß nahm, dass es ja nicht zu mehr Körperkontakt als nötig kam.
Sie hatten nur mit Blicken kommunizieren können und irgendwie hatte der Reiz darin gelegen, das ganze vor Lauren zu verbergen.
»Er kam in die Schneiderei«, murmelte Nina. »Damals gehörte sie noch meiner Tante.«
Sie seufzte.
»Als er einige Tage wieder kam, war seine Schwester dabei, die mich mitgenommen hat, da sie mir ihre eigene Näharbeit zeigen wollte. Später hat Noah mir erzählt, dass er Eliza dazu überredet hat, weil er ahnte, dass Lauren mich nicht gehen lassen würde.«
Nina lachte leise bei der Erinnerung.
»Tatsächlich war sie zu Beginn nicht sehr begeistert als ich verliebt war, doch irgendwann akzeptierte sie ihn einfach und sagte zu mir ‚Mädchen, du musst selbst wissen, mit wem du glücklich wirst' Das war großartig von ihr.«
Selig schwebte sie in Erinnerungen. Sie wusste noch jedes Detail, von dem Abend, an dem sie ihrer Tante gesagt hatte, dass sie verliebt sei, wie aufgeregt und wie glücklich sie gewesen war.
Liebe... Ohne Liebe war das Leben so viel kälter.
»Warst du schon einmal verliebt?«, fragte sie nachdenklich.
Lewin nickte nur ohne sie anzusehen.
»Ich war jung und vielleicht auch ein bisschen naiv. Und jetzt...«, fuhr sie fort.
Sie verstummte.
»Du bist immer noch jung, Nina. Du bist zweiundzwanzig«, sagte Lewin in die Pause, die entstand, hinein.
»Ich fühle mich Jahrzehnte älter«, gab sie zu und zuckte mit den Schultern.
Der Stein in ihrer Jackentasche war schwer und lag immer noch kühl und feucht in ihrer Hand. Der Wind peitschte ihr das Haar in die Stirn. Der Regen wurde stärker und die Dämmerung zog auf.
»Lass uns zurück gehen«, sagte Nina, als es fast dunkel war.
Sie wandte dem Meer den Rücken zu und sie machten sich auf den Weg zurück ins Dorf.
Sie fühlte sich seltsam frei. Als habe der Wind einen Teil von ihrer Last einfach davongetragen.
Lewin hingegen wirkte... schwermütig, als würde ihn irgendetwas sehr belasten.
Sie ging hinter ihm, er konnte nicht wissen, dass sie ihn den ganzen Weg beobachtete und sich den Kopf zerbrach.
Irgendetwas schien ihn zu beschäftigen, er schien geradezu einen stillen Kampf auszufechten.
Sie erreichten die Pension. Gerne hätte sie noch länger mit ihm geredet, doch er machte keine Anstalten, das Gespräch wieder aufzunehmen.
Zehn Minuten später saß Nina allein und ratlos in ihrem kleinen Zimmer und starrte nachdenklich an die kahle weiße Wand. Lewin hatte sich nicht verabschiedet, er war einfach hinter der Tür verschwunden.
Ninas Gedanken schweiften von Lewin zu Noah und wieder zurück, sie kam nicht zur Ruhe.
Sie konnte sich nicht erklären, warum Lewin sich auf einmal so sehr für Noah interessierte – es gab keinen Grund. Er kannte ihn nicht... und streng genommen kannte er nicht einmal sie.
Und gleichzeitig musste sie an Noah denken, das Gespräch am Strand; diese Art von Monolog hatte etwas in ihr freigesetzt. Das Gefühl, dass Noah an ihrer Seite war, immer, egal, wo sie sich befand.
Das war nichts Neues... sie hatte dieses Gefühl in den letzten Monaten häufig gehabt – so häufig, dass sie an ihrem Verstand gezweifelt hatte. Aber jetzt fühlte es sich anders an, klarer, kontrollierbarer.
Nina gähnte und spürte, dass sie Hunger hatte. Das Wetter draußen ließ sie zögern, dann erhob sie sich um sich auf die Suche nach einem Laden oder einer Bäckerei zu machen.
Sie zog ihren Mantel an, griff nach ihrer Tasche, in der sich ihr Geld befand und blieb vor Lewins Tür stehen. Sie sollte ihn fragen, ob er auch etwas essen wollte.
Ihre Hand schwebte über der Türklinke, etwas ließ sie zögern, dann klopfte sie leise und drückte die Klinke herunter.
Mit einem unauffälligen Quietschen öffnete sich die Tür.
Nina blickte in ein leeres Zimmer. Der Koffer stand geöffnet in der Zimmermitte, das Futter schimmerte dunkelrot im schwachen Licht der Lampe.
Nina schluckte. Der Koffer war leer und Lewin war nirgendwo zu sehen. Doch sie wusste instinktiv, dass er im Koffer war. Es war fast unnatürlich still. Nur das Fenster war angekippt und das Rauschen des Meeres drang hinauf.
Sie setzte sich auf das unberührte Bett und starrte auf den Koffer, als würde er gleich explodieren. Wut, Neugier und unendliche Enttäuschung brandeten in ihr auf.
Lewin steckte im Koffer, in seinen Träumen.
Er hatte das getan, wovor er sie immer warnte.
Er hatte sie hintergangen.
Nina schluckte und versuchte, ihre Enttäuschung niederzukämpfen.
Seine eigenen Worte hallten in ihrem Kopf nach.
Es ist gefährlich! Es bringt Unglück!
Lewin hielt sich nicht an seine eigenen Regeln. Es war... Nina schüttelte den Kopf, sprang auf und verließ voller Wut das Zimmer.
Sie rannte den Flur hinab und trat nach draußen.
Die Straßen waren feucht und verregnet, keine Menschenseele begegnete ihr. Ziellos lief sie umher.
Es war auch nicht wichtig, dass kein einziges Geschäft mehr geöffnet hatte – der Appetit war ihr vergangen.
Im Grunde ging es sie nichts an. Sie sollte keinen Gedanken daran verschwenden, ob er sich ins Unglück stürzte oder er etwas tat, was – angeblich – gefährlich war.
Aber Lewin verriet seine eigenen Werte. Die ganze Zeit war er ihr ehrlich erschienen, verantwortungsbewusst.
Und jetzt das.
Nina blieb auf einem kleinen Platz stehen. Eine Kirche thronte in der Mitte, es war still.
Wer wusste schon? Vielleicht hätte sie längst die Möglichkeit gehabt, Noah zu sehen, wenn sie ihm nicht blind vertraut hätte?
Doch jetzt war sie Lewin zu nichts mehr verpflichtet, er würde sie nicht mehr davon abhalten können, Noah über den Koffer zu besuchen.
Entschlossen trat sie den Rückweg an.
Ihre Schritte hallten auf dem Flur wieder, niemand begegnete ihr.
»Nina?«
Lewin trat auf den Flur, als sie rasch den Korridor zurück zu ihrem Zimmer entlang lief.
Sie ignorierte ihn, lief an ihm vorbei und schlug ihm die Tür vor der Nase zu. Aus den Augenwinkeln sah sie noch, dass er müde aussah, das Haar stand ihm wild vom Kopf ab.
Sie verschloss die Tür und warf sich auf das Bett. Wut und Enttäuschung schlugen in Verzweiflung um.
Verrat... Wie hatte sie sich in ihm getäuscht!
Er war der erste Mensch seit einer Ewigkeit, dem sie so etwas wie Vertrauen entgegen gebracht hatte.
»Nina!« rief er und klopfte heftig.
Sie reagierte nicht, blieb reglos auf dem Bett liegen, während ihr langsam Tränen über die Wangen liefen.
Sie konnte gar nicht so genau benennen warum. Vielleicht wegen Noah, weil er tot war oder wegen sich selbst, weil sie nicht wusste, was sie tun sollte, oder wegen Lewin, weil er Regeln diktierte, an die er sich selbst nicht hielt.
»Nina!«
Das Klopfen wurde lauter, energischer. Woanders schwang eine Tür auf. Nina vernahm eine gedämpfte Stimme und Lewin, der gereizt etwas erwiderte.
»Jetzt mach schon die verdammte Tür auf!«
»Nein«, erwiderte sie trotzig. »Vergiss es!«
»Ich muss mit dir reden!«, entgegnete Lewin eindringlich.
Nina seufzte. »Ich will nicht mit dir reden!«
»Was ist los?« wollte er wissen.
Ratlosigkeit schwang in seiner Stimme mit.
»Verschwinde!«
Nina richtete sich langsam auf und wischte sich die Tränen aus den Augen.
»Das wird jetzt langsam lächerlich«, rief er und kurz darauf hörte sie seine Schritte.
Erschöpft schleppte sie sich zur Tür, entriegelte sie und steckte den Kopf nach draußen.
Lewin warf ihr ein triumphierendes Lächeln zu.
»Ich wusste, dass du kommen würdest«, sagte er mit einem breiten Grinsen. Blitzschnell schob er den Fuß zwischen Rahmen und Tür, sodass Nina ihn nicht mehr einfach rausschmeißen konnte.
Sie starrte ihn an.
Er war wie ausgewechselt. Wieder lag das Lächeln auf seinen Lippen, wieder diese Freude, die er ausstrahlte.
Doch all das verblasste, als er Nina länger betrachtete.
»Du hast geweint«, stellte er nüchtern fest.
Nina wollte irgendetwas sagen, irgendetwas, das ihrer Wut Luft machte, doch ihre Augen füllten sich wieder mit Tränen und es gelang ihr gerade noch, ein Schluchzen zu unterdrücken.
»Nina...«, flüsterte er betroffen ihren Namen und wollte sie instinktiv in den Arm nehmen, doch sie wich ihm aus.
»Was ist los?« fragte er leise und schob sie weiter ins Zimmer hinein.
Sie schüttelte nur den Kopf und wandte ihm den Rücken zu. Sie biss sich auf die Lippen, damit ja kein Geräusch über ihre Lippen kam.
Nina schloss die Augen, atmete tief durch. Ein und Aus.
Lewin legte ihr eine Hand auf den Rücken.
Sie wirbelte herum und schüttelte ihn ab.
»Du warst im Koffer«, sagte sie leise.
Sie wollte vorwurfsvoll klingen, doch da schwang nur unendliche Enttäuschung in ihrer Stimme mit.
Lewin wich einen Schritt zurück und wurde blass.
»Woher weißt du das?« fragte er.
Seine Stimme zitterte.
»Ich habe es gesehen. Der Koffer stand in deinem Zimmer. Geöffnet und du warst nirgendwo. Ich bin nicht dumm, Lewin.«
Es dauerte eine Weile, bis er reagierte, dann nickte er schließlich.
»Ich weiß, Nina.«
Zögernd sah sie ihn an. Auf seiner Stirn stand eine besorgte Falte, fast wirkte er reuevoll.
»Und ich weiß, was du jetzt denkst.«
»Ach ja?«
Trotzig verschränkte sie die Arme vor der Brust. Sie hatte nicht vor, sich weiterhin von ihm täuschen zu lassen.
»Aber Nina, hast du dich nie gefragt, wie ich das alles hier schaffe?« fragte er leise und setzte sich auf ihr Bett.
Nina schluckte. Sie wollte nicht neugierig sein, sondern kalt und gleichgültig, doch all die Fragen Fragen und das Unwissen siegten. Natürlich hatte sie sich das gefragt, mehrfach sogar.
Sie seufzte und nickte leicht, mit der kleinen Hoffnung, er würde es nicht bemerken.
»Ich lebe täglich mit der Angst, den nächsten Tag nicht mehr zu erleben«, fügte Lewin hinzu und sah sie aufmerksam an.
»Ich brauche den Koffer. Es ist paradox: zum einen hasse ich das Ding, weil ich dafür die Verantwortung trage... zum anderen«, er zuckte hilflos mit den Schultern.
»Er ist wie eine Droge, verstehst du?«
Nina hätte gerne den Kopf geschüttelt. Doch in seinen Augen sah sie, dass ihn etwas bewegte. Plötzlich wusste sie, dass auch er mit einem Verlust kämpfte...
Wenn sie den Koffer besäße – sie würde ihn nie wieder hergeben.
Wie lange hatte in den Wochen, Monaten nach Noahs Tod einfach nur dagesessen und sich das Leben mit ihm erträumt, so getan, als wäre alles beim Alten?
Sie nickte und setzte sich vorsichtig neben ihn.
Sie verstand ihn und das machte es schwer, ihm länger böse zu sein.
»Was sind deine Träume?« wollte sie schließlich wissen.
Nina dachte an ihr erstes Gespräch im Zug, als er sie nach ihren Wünschen gefragt hatte.
Es kam ihr vor, als sei seitdem eine Ewigkeit vergangen, doch es waren nur Tage.
Ein Lächeln huschte über seine Lippen, halb traurig, halb spöttisch.
»Wir sind uns ähnlicher, als du denkst«, sagte er dann und Nina sprang auf.
»Was willst du damit sagen?« fragte sie aufgeregt.
»Auch mein Traum zeigt meine Familie.«
Jetzt war seine Miene eindeutig traurig.
Nina legte die Stirn in Falten. »Deine Familie?« hakte sie ungläubig nach.
Lewin nickte. »Meine Frau und mein Kind befinden sich im Koffer. Und nur dort.«
Er sah sie fest an. Seine Augen glänzten.
Nina rieb sich über die Schläfen, ihr Kopf begann wieder zu schmerzen.
Nur langsam fügten sich die Puzzleteile zu einem Ganzen zusammen.
»Was ist mit ihnen?« fragte sie leise.
Lewin atmete tief ein, schaute lange aus dem Fenster.
»Sie sind tot«, sagte er dann sehr leise. »Sie sind tot, weil wir den Koffer gestohlen haben.«
Nina spürte, wie ihr die Farbe aus dem Gesicht wich.
»Es ist eine lange Geschichte«, fügte er mit fester Stimme hinzu und sprang auf.
»Ich sollte gehen, du bist sicher müde.«
Nina wollte ihn aufhalten, ihn fragen, was geschehen war, doch die Worte blieben ihr im Halse stecken. Ihr Kopf war wie leer gefegt.
Und als sie etwas sagen konnte, war er schon verschwunden und sie hörte nur noch, wie eine Tür dumpf ins Schloss fiel.
Erstarrt blieb sie stehen. Ihre Wut war verpufft, stattdessen war da... Verwirrung.
Ihre Gedanken rasten, kreisten immer um seine Worte.
Seine Familie war tot, weil er den Koffer gestohlen hatte. Sie waren tot weil...
Es war seine Schuld.
Nina schluckte. Lewin hatte seine Familie auf dem Gewissen – wegen dem Koffer?
Das ergab keinen Sinn.
Oder das musste bedeuten, dass der Koffer tatsächlich wichtiger als alles andere war.
Oder das die Miliz so schreckliche Pläne hatte, dass sie nicht einmal eine geringe Vorstellung davon hatte.
Aber was war schlimm genug, das man das Leben seiner Familie aufs Spiel setzte, oder gar opferte?
Nina schüttelte den Kopf und ließ sich auf das Bett sinken. Er schuldete ihr eine Erklärung. Mehr als das: Er schuldete ihr die Wahrheit.
Sie überlegte, was sie an Lewins Stelle, in seiner Situation getan hatte.
Sie war sicher, dass sie einen Gegenstand niemals über Noahs Leben gestellt hätte... aber sie wusste nicht, was Lewin wusste.
Und er trug ein großes Geheimnis mit sich. Das Geheimnis der Miliz, das schrecklicher sein musste, als alles was ihr im Kopf umherschwirrte.
Und trotzdem verstand sie ihn nicht. Lewin hatte eine Frau gehabt, war, wie sie selbst, verheiratet gewesen – Hatte sogar ein Kind gehabt.
Es gab nichts Wichtigeres.
Und es gab nichts Größeres als die Liebe zu einer Familie.
Auch der Koffer konnte einfach nicht wichtiger sein.
Je länger Nina sich darüber den Kopf zerbrach, desto verwirrter wurde sie.
Lewin hatte aus irgendeinem Grund den Koffer gestohlen und dafür seine Familie verraten. Allein das ergab keinen Sinn. Und weil seine Familie dafür gestorben war, konnte er sie im Koffer, für den er ständig verfolgt wurde, sehen und besuchen. Bei ihnen sein.
Es war ungerecht. Es war so unfair, dass ihr Tränen in die Augen schossen. Sie selbst hatte nicht Noahs Leben aufs Spiel gesetzt und sie war nicht in der Lagen ihn zu treffen, ihn wiederzusehen.
Sie musste mit Lewin reden. Sofort.
Energisch sprang sie auf und lief den Flur entlang. Sie stieß fast mit einem alten Mann zusammen, der ihr entgegen kam, doch sie beachtete ihn nicht und ignorierte auch sein Geschimpfe, dass er ihr nachrief.
Sie stieß die Tür zu Lewins Zimmer an, klopfte nicht.
Es war leer.
Überrascht blieb sie stehen – sie hatte damit gerechnet, dass er schlief oder auf jeden Fall mit seiner Anwesenheit. Der Koffer stand geschlossen unter dem Kleiderhaken. Nina schaute sich kurz um. Lewins Mantel hing am Kleiderhaken, das Fenster war angeklappt. Nur Lewin war nirgendwo zu sehen.
Plötzlich tat sich ihr eine ungeahnte Chance auf.
Mit zitternden Fingern griff sie nach dem Koffer. Wieder fiel ihr auf, wie schwer er war, doch angesichts der Tatsache, was in ihm enthalten war, wunderte es sie nicht mehr.
Sie machte sich an dem Schloss zu schaffen, stocherte hastig mit dem Schlüssel darin herum. Ihre Hände schwitzten vor Aufregung und Nervosität. Sie rechnete damit, dass Lewin jeden Moment zurück kam und sie von ihrem Vorhaben abhalten würde.
Doch er tauchte nicht auf und endlich sprang das Schloss auf und sie öffnete den Koffer.
Sie dachte an das, was Lewin ihr gesagt hatte, damals im Zug, als sie beide wahrscheinlich nicht damit gerechnet hatten, dass es einmal so weit kommt.
Sie durfte den Bezug zur Realität nicht verlieren, deshalb brauchte sie einen persönlichen Gegenstand. Ihre Ohrringe. Die Zeit verlief im Koffer schneller, deshalb benötigte sie eine Uhr.
Ihre Armbanduhr.
Für einige Sekunden verharrte Nina reglos und starrte auf das rote Innenfutter des Koffers. Plötzlich zweifelte sie. Es war nicht möglich, dass sie in einem Koffer ihren geheimsten Sehnsüchte und ihre innersten Träume begegnen konnte.
Sie schluckte. Was, wenn sie sich täuschte. Wenn ihre größter Wunsch es gar nicht war, Noah zu treffen?
Als müsste sie sich selbst überzeugen, schüttelte Nina den Kopf.
Dann atmete sie ein letztes Mal tief durch, blickte über die Schultern zurück, als müsste sie sich vergewissern, nicht beobachtet zu werden.

Die SchneiderinWo Geschichten leben. Entdecke jetzt