13. Kapitel

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Sie würde die Koffer vertauschen.
Nur so konnte sie Lewin befreien und den Koffer behalten.
Sie würde den echten Koffer in der Schusterei lassen und ihn abholen, wenn Lewin befreit war.
Dann könnten sie das Weite suchen, mit Lorena und Jeremias reden, damit ihr endlich alle Fragen beantwortet wurden...
Sie lachte auf. Selbst in ihrem Kopf klang das lächerlich, geradezu naiv.

Der Schuster überreichte ihr stolz den neuen Koffer, der tatsächlich exakt wie sein Vorbild aussah. Nina fiel ein Stein vom Herzen. Im dunstigen Licht würden die Unterschiede noch undeutlicher sein. Es war ihre Chance.
»Kann ich den alten Koffer noch bis morgen früh bei Ihnen lassen?« fragte sie.
In ihrem Inneren kribbelte es und sie versuchte, die Nervosität niederzukämpfen. Alles würde gut werden...
Der Schuster zuckte mit den Schultern.
»Ich frage mich echt, was Sie vorhaben, Miss«, sagte er gleichmütig in seinen Bart hinein.
Nina lächelte.
»Ihre Arbeit ist großartig«, sagte sie und strich über das raue Leder.
»Danke.«
»Ich werde Sie morgen bezahlen, wenn ich meinen Koffer abhole«, sagte sie und wandte sich zum Gehen.
Sie fühlte sich dreist und unverschämt, ihr schlechtes Gewissen flüsterte ihr zu, dass sie als Schneiderin selbst solche Leute erlebt hatte und sie zum Teufel geschickt hatte.
»Ihr Koffer ist seltsam«, rief der Schuster und in seiner Stimme schwang eine unerwartete Gefühlsregung mit.
Nina erstarrte auf der Schwelle und drehte sich langsam um.
»Ich weiß nicht, als ob er irgendwie... ich kann es nicht beschreiben.«
Der Schuster zuckte mit den Schultern.
Zurück war die stumpfe Gleichgültigkeit.
»Ich komme morgen früh«, sagte sie. »Und Sie tun sich gut daran, den Koffer nicht weiter zu beachten, glauben Sie mir«, fügte sie noch hinzu, dann verließ sie den Laden.

Es fühlte sich seltsam an, den neuen Koffer zu tragen, vertraut und durch das Wissen, dass er eine Fälschung war, irgendwie falsch und ungewohnt.
Nina versuchte sich zu sammeln. Ihr Herz schlug wie verrückt, als würde sie bereits jetzt der Miliz gegenüber stehen. Ihr war schwindelig vor Aufregung.
Es war bereits dunkel, die Straßenlaternen flammten auf und sorgten für ein warmes Licht.
Nina blieb zögernd auf dem Marktplatz stehen. Irgendwo musste sie die Nacht verbringen, auch wenn sie morgen zeitig aufstehen würde und jetzt sicher nicht schlafen konnte.
Die Anspannung saß ihr fest in den Knochen, dass sie sie fast körperlich spüren konnte.
Sie musste doch völlig verrückt sein...
Der Glauben, dass irgendetwas schief gehen würde, nahm überhand in ihrem Kopf. Sie hatte keinen Plan, nur eine ideale Vorstellung, von dem, was sie sich erhoffte.
Es musste einfach funktionieren – sie musste Glück haben.

Sie wünschte, Lewin wäre bei ihr. Er hatte immer einen Ausweg gewusst...
Sie vergrub das Gesicht in den Händen.
Sie sollte optimistisch bleiben wie er.
Sie führte sich vor Augen, was geschah, wenn sie scheiterte.
Sie würde sterben. Lewin würde sterben. Der Koffer würde in die falschen Hände geraten. Vermutlich würden auch Lorena und Jeremias sterben – das ließ sie erstaunlich kalt, war aber trotzdem nicht erstrebenswert.
Aus einigen Fenstern schien Licht nach draußen, die Kneipen waren noch geöffnet. Wenn eine Tür aufschwang, erfüllte für ein kurzer Moment Stimmengewirr und Gelächter die Straße.
Sonst war es still.
Und Nina tat etwas, was sie bisher noch nie in ihrem Leben getan hatte.
Sie betrat allein eine Kneipe, mit der Absicht, sich ein klein wenig Mut zuzutrinken. Nicht zu viel – die Angst vor einem Kontrollverlust über ihre Gedanken oder ihr Körper war zu gegenwärtig – doch ein wenig, um die Spannung zu lösen.
Niemand beachtete sie. Das Licht war angenehm gedämpft. Der Tresen war aus dunklem, glatten Holz, ebenso die Tische und Stühle. Aus einem Grammophon erklang leise Jazzmusik. Stimmengewirr und der Rauch von Pfeifen und Zigaretten hing in der Luft.
Nina musste husten. Zögerlich ließ sie sich an einem Tisch nahe der Tür nieder, um die frische Luft einzuatmen, wenn jemand ging oder hereinkam. Sie stellte den Koffer zwischen ihre Füße und schlug die Zeitung auf, die sie unterwegs gekauft hatte.
Die Nachrichten rauschten an ihr vorbei, ohne dass sie sie aufnahm oder verarbeitete. Sie schafften es nicht einmal, sie für ein paar Minuten abzulenken. Die Angst vor dem nächsten Morgen war zu tiefgreifend, fast war es, als würde kein anderer Gedanke in ihr mehr Platz haben. Der Druck auf ihrer Brust war enorm und änderte sich auch nicht, als der Kellner sie fragte, was sie gerne trinken möchte.
Sie brachte nur ein heiseres »Irgendetwas«, hervor und versteckte sich dann wieder hinter der Zeitung.
Nina spürte, wie er sie für einen Moment lang schweigend anschaute und dann verschwand. Sie atmete auf und las weiter über die Erfolge der Alliierten in Europa und über Probleme mit Japan und... was scherte sie schon der Krieg?
Sie hatte ganz andere Sorgen. Sie spielte mit ihrem Leben und... sie las über die U-Boote im Atlantik und über Konvois, die von den Deutschen überfallen wurden.
Dieser Krieg war einfach nur wahnsinnig. Wie konnte es passieren, das ein einzelner größenwahnsinniger Idiot in eine Position geriet um so ein Schlamassel anzurichten, in dem die ganze Welt beteiligt war. Amerika war zwar offiziell neutral, doch jeder wusste, dass es nur einen Anlass brauchte, um sich in die Geschehnisse in Europa einzumischen. Mehr oder weniger unter der Hand unterstützten die Staaten schon jetzt Großbritannien und Frankreich mit Waffen und Lebensmitteln. Es war doch nur eine Frage der Zeit...
Der Kellner kam zurück. Auf seinem Tablett stand ein einzelnes Glas mit einer durchsichtigen Flüssigkeit.
»Ich hoffe, das entspricht ihren Vorstellungen«, sagte er galant und stellte das Glas vor ihr auf den Tisch.
Nina bedankte sich.
Sie hatte keine Ahnung von Alkohol, hatte selbst nur ab und an gemeinsam mit Noah oder in Gesellschaft ein Glas Rotwein getrunken... Als Noah gestorben war, hatte sie eine Zeit lang den Wein getrunken, den sie zu Hause gehabt hatten, doch als der Bestand leer war, hatte sie aufgehört. Sie hatte es nicht geschafft, in den nächsten Laden zu gehen, um ein oder zwei neue Flaschen zu kaufen.
Sie nippte an der klaren Flüssigkeit und merkte, dass der Kellner erstaunlich gut ihren Geschmack getroffen hatte. Das Getränk schmeckte süßlich, frisch und der Alkohol war nicht allzu stark. Es war gut und entspannte ihre Nerven.
Nina lehnte sich zurück und genoss die Wärme in sich, die sich langsam in ihrem Körper ausbreitete und ihre Nervosität und Anspannung löste.
Ihre Gedanken waren klar, sie war wach und plötzlich wuchs in ihr Hoffnung, das Gefühl, dass sie es schaffen konnte.
Wenn sie nur die Nerven behielt und bedacht handelte...
Sie ließ den Blick durch den Schankraum wandern, beobachtete für ein paar Minuten drei Männer, die in äußerster Konzentration Skat spielten und dabei ihre Zigarre pafften.

Die SchneiderinWo Geschichten leben. Entdecke jetzt