5. Kapitel

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Am nächsten Morgen war Nina nicht tot, aber sie hatte hämmernde Kopfschmerzen. Hinter ihren Schläfen pochte es, als würden Kanonenkugeln gegen das Innere ihre Schädeldecke donnern. Sie kniff die Augen zusammen und versuchte gar nicht erst, aufzustehen; selbst im Liegen wurde ihr schon schwindelig. Das Bett schwankte, als befände sie sich auf einem Schiff irgendwo in den Weiten des Ozeans.
Alles tat ihr weh, selbst ihr Inneres schmerzte.
Nina schloss die Augen wieder.
Die letzte Nacht war traumlos gewesen – eine Wohltat. Auch jetzt gingen ihre Gedanken nur schleppend zäh. Ein weißer Nebel hing über allem und ließ alles verschwimmen.
Nichts war mehr wichtig.
Die Dunkelheit tat ihr gut und sie blieb den ganzen Tag im Bett liegen.
Vielleicht war sie wirklich krank, vielleicht hatte sie auch einfach Angst vor dem, was sie erwartete, wenn sie das Schlafzimmer verließ.
Erst am nächsten Tag siegte der Hunger, wenngleich die Kopfschmerzen stärker geworden waren.
Nina schaffte es, sich aufzusetzen, ohne das Bewusstsein zu verlieren. Für einige Sekunden wurde ihr Schwarz vor Augen und es drehte sich alles, dann schaffte sie es, sich vorsichtig in die Küche zu schleppen.
Über den Fließen an der Wand befanden sich Brandflecken und es roch nach Feuer.
Nina beachtete das alles kaum. Sie kochte sich einen Tee und begann nach Kopfschmerztabletten zu suchen, doch es waren keine mehr da.
Nachdem sie den Tee getrunken hatte, fühlte sie sich etwas besser. Das wattige Gefühl in ihrem Kopf lichtete sich und auch die dumpfe Gleichgültigkeit fiel ein wenig von ihr ab. Nina massierte ihre Schläfen.
Langsam sah sie ein, dass sie etwas tun musste; sie musste sich der Katastrophe stellen und eine Entscheidung fällen:
Wollte sie die Schneiderei wieder aufbauen oder nicht?
Wollte sie Schneiderin sein?
Um einen Entschluss hinaus zu zögern, ging sie ins Bad, der einzige Raum, der offenbar keinen Schaden davongetragen hatte und ließ sich ein Bad ein.
Sie zog die Sachen aus, die sie schon seit drei Tagen trug. Sie waren schmutzig, die Ärmel ihrer Bluse waren eingerissen und kaputt.
Es war ihr gleichgültig. Ihr Äußeres passte nur in das Durcheinander der Schneiderei.
Nina blickte an sich herunter. Die blauen Flecken von ihrem Sprung aus dem Zug hatten sich in ein ekliges Grünviolett verfärbt. Unter ihren Fingernägeln stand der Dreck und die Verletzung an ihrem Kopf hatte das Pflaster durchblutet und war hässlich verkrustet.
Vorsichtig stieg sie in die Wanne.
Das warme Wasser war eine Wohltat ihre Haut. Mit einem leisen Seufzen schloss sie die Augen.
Ihre Gedanken waren stumm, vernebelt von Wasserdampf und Wärme. Die Trägheit war so angenehm, dass sie am liebsten nie mehr ins volle Bewusstsein zurückgekehrt wäre.
Aber irgendwann kühlte das Wasser ab und sie begann zu frieren.
Nina stieg aus der Wanne und fühlte sich wie ein neuer Mensch. Unter ihren Augen lagen immer noch dunkle Schatten, sie war immer noch blass, doch sie fühlte sich zumindest wieder ein wenig lebendiger.
Irgendwo im Chaos des Schlafzimmers fand Nina auch noch etwas zum Anziehen und langsam fühlte sie sich für die neue Konfrontation mit dem Nähstübchen gewappnet.
Sie ahnte, was da auf sie zukam.
Langsam stieg sie die Treppe hinab und blickte sich um.
Sie konnte immer noch nicht wahrhaben, dass das alles wirklich geschehen war. Mühsam hielt sie die erneut aufwallenden Tränen zurück.
Nina wollte, musste, so gefühllos wie möglich, die Trümmern begutachten, um eine Entscheidung zu treffen, doch immer wieder drängten sich Verzweiflung und Wut auf diejenigen, die das getan hatten, in den Vordergrund.
Es war chaotisch; es war schrecklich, doch es war nicht unmöglich, den Laden wieder aufzubauen. Es würde Zeit kosten und Nerven, doch vielleicht das war es wert. Die Schneiderei war ihr Leben, das wollte sie nicht aufgeben. Und sie würde Lewin nie wieder hereinbeten.
Wenn sie geahnt hätte, dass seine Anwesenheit so viel Kummer brachte, hätte sie nie ein Wort mit ihm gewechselt.
Auch wenn sie die Gesellschaft im Nachhinein nicht bereute – er war ein unglaublich netter Kerl... aber dennoch. Sie würde sich nicht auf die Suche nach ihm machen, um an den Koffer zu kommen. Er hatte nicht untertrieben, als er sagte, er sei auf der Flucht, in Lebensgefahr.
Sie begann aufzuräumen. Die Schneiderei war ihr Platz, ihre Berufung, nicht die Suche nach einem zauberhaftem Koffer...
Nina versuchte, so rational wie möglich an das Unterfangen heranzugehen und nicht ständig in Verzweiflung und Hilflosigkeit zu versinken und nicht immer wieder über die Möglichkeiten nachzudenken, die der Koffer bot.
Sie kehrte Scherben zusammen, versuchte, Papier welches nicht zerfetzt und zerrissen war, zu sammeln um es später zu ordnen und wegzuräumen.
Die kalte Februarluft wehte ohne Hinderung durch die zerbrochenen Fenster und ließ sie frösteln.
Sie wünschte, sie hätte Hilfe. Jemand, der sie unterstützte, mit dem sie reden konnte, sodass die Stille nicht ganz so erdrückend war.
In Gedanken hörte sie Noah, wie er mit seiner sanften Stimme erzählte... doch was nützte ihr das schon? Ihre Gedanken waren alles andere als die Realität.
»Hallo?« rief plötzlich eine Stimme, als Nina gerade im Nähzimmer die Maschine aufrichtete. Auch sie war kaputt. Nina seufzte schwer. Sie hatte nicht genug Geld, um alles reparieren zu lassen und es war unmöglich, die Schneiderei bald wieder zu öffnen – sie wollte sich das nur nicht eingestehen und an ihrer Hoffnung festhalten: Sie konnte es schaffen.
»Es ist geschlossen!«, rief sie gereizt.
»Komm her!«
Nina schluckte.
Die Stimme klang drängend und sie war ihr bekannt. Sie gehörte zu dem Menschen, der verantwortlich für all die Zerstörung war.
»Verschwinde, Lewin!« rief sie unfreundlich.
Sie verharrte im Nähzimmer, sie wollte ihn nicht sehen.
»Nina!«
In ihr sträubte sich alles, doch sie gab nach.
Es musste wichtig sein, wenn er hier auftauchte, sehr wichtig.
Langsam trat sie hinter dem Vorhang hervor. Lewin stanf in der Tür, sein Haar war zerzaust und der Koffer in seiner linken Hand. Zu ihrer Überraschung war er nicht allein. Ein weiterer Mann,  kleiner und noch zerzauster als Lewin, stand ebenfalls im Laden. Die Augen lagen tief in ihren Höhlen, doch sein Blick war messerscharf. In seinem Mundwinkel hing eine Zigarette.
Beide blickten sich geschockt um.
»Ich will dich nicht sehen«, sagte sie drohend. »Du bist Schuld an all dem. Verschwinde!«
»Nina«, setzte Lewin an und musterte sie eingehend. »Wenn ich das gewusst hätte, dann...«
Sie zuckte mit den Schultern und verschränkte die Arme vor der Brust.
»Du hast es aber nicht gewusst«, erwiderte sie herablassend.
Mit vor Zorn blitzenden Augen sah sie ihn an.
Lewin hatte in ihrem Leben nichts mehr verloren.
»Es tut mir leid...«, setzte er an, doch sie unterbrach ihn kalt.
»Ich habe gesagt, du sollst verschwinden.«
»Wir wären nicht hier, wenn es wichtig wäre«, mischte sich Lewins Begleiter ein.
Seine Stimme war rau und heiser, klang, als würde er zu viel Tabak und Whiskey konsumieren.
Nina zuckte gleichgültig mit den Schultern.
»Das ist mir egal«, entgegnete sie, doch die Mauer, die sie innerlich um sich gebaut hatte, begann zu bröckeln.
Lewin sah sie fest an. »Was ist los mit dir, Nina?« fragte er mit sanfter Stimme, die ihr einen Schauer über den Rücken jagte.
Sie schnaubte ungläubig. »Was los ist?«, wiederholte sie schrill. »Schau dich doch um, dann siehst du was los ist!«
»Nina...«
»Es ist deine Schuld. Du hättest nie herkommen dürfen! Und jetzt geh endlich und lass mich in Frieden!«
Sie drehte ihm den Rücken zu, um ihre Tränen zu verbergen.
Lewin ging nicht. Er machte einen zögerlichen Schritt auf sie zu und legte ihr eine Hand auf die Schultern.
»He...«, flüsterte er mit belegter Stimme.
Sie schüttelte seine Hand ab und schluchzte auf.
»Lass mich!«, zischte sie, doch er ließ sich nicht beirren, sondern schloss sie in seine Arme und Nina konnte sich nicht länger kontrollieren und weinte hemmungslos.
Es war lange her, dass jemand sie in den Arm genommen hatte; die plötzliche Nähe und das Gefühl, nicht allein zu sein, irritierte sie geradezu.
Aus den Augenwinkeln sah sie, wie der Fremde sich neugierig umschaute. Hastig löste sie sich aus Lewins Armen und brachte schnell einigen Abstand zwischen sie. 
Ihr Herz schlug viel zu schnell.
»Du bist in Gefahr«, sagte Lewin eindringlich. »Du musst mitkommen.«
Sie schüttelte den Kopf und lachte hysterisch auf.
»Ich werde nirgendwo mit hin kommen, da kannst du sicher sein. Ich habe kein Interesse mehr, auf Züge aufzuspringen und...«
»Nina!« unterbrach er sie scharf.
»Du hast keine Wahl«, sagte der Fremde. »Entweder du kommst mit oder du bist in ein oder zwei Stunden tot. Deine Entscheidung.«
Seine dunklen Augen schienen sie festzunageln.
Nina starrte ihn entgeistert an.
»Sie haben doch keine Ahnung«, fauchte sie wütend.
Der Fremde lachte freudlos auf. »Vermutlich weiß nur Lewin mehr über Wünsche und Träume als ich«, erwiderte er gelangweilt und schaute an ihr vorbei.
Sie warf Lewin einen fragenden Blick zu.
Wer war dieser Mann?
Als habe er ihre Gedanken gelesen sagte Lewin in diesem Augenblick: »Das ist übrigens Jeremias. Er unterstützt meine Sache...«
»Es ist mir vollkommen egal, wer deine Sache unterstützt«, sagte Nina leise. »Ich will, dass du verschwindest und nie wieder hier auftauchst, versteh das doch endlich.«
Ihre Stimme hatte einen flehenden Unterton; selbst in ihren eigenen Ohren klangen ihre Worte armselig.
»Hör mal, ich weiß, dass ich Schuld an all dem hier bin. Aber ich möchte nicht, dass dir noch mehr passiert«, sagte er energisch.
Sie verschränkte wieder die Arme vor der Brust und schwieg. Im Grunde genommen, wenn sie ehrlich zu sich selbst war, dann war sie froh, dass er hier war, dass er lebte und... das er ihr helfen wollte. Die Wahrscheinlichkeit, Noah irgendwann durch den Koffer zu sehen, wuchs mit seiner Anwesenheit und solange sie in seiner Nähe war. Die Sehnsucht nach Noah war präsenter als je zuvor.
»Wir müssen los«, sagte Jeremias in diesem Augenblick.
»Warte noch«, erwiderte Lewin, ohne den Blick von Nina abzuwenden.
Jeremias seufzte entnervt.
»Ich war nie dafür, herzukommen«, murmelte er nur kopfschüttelnd. »Wir haben keine Zeit.«
»Dann geh doch, gottverdammt!«, schleuderte Nina ihm ungehalten ins Gesicht. »Ich habe nicht darum gebeten, dass ihr kommt!«
Jeremias zuckte ungerührt mit den Schultern. »In Ordnung«, sagte er und griff nach Lewins Koffer und trat zur Tür.
Lewin warf ihr einen letzten sorgenvollen Blick zu.
»Sie wissen, dass du gelogen hast«, sagte er leise. »Was auch immer du ihnen erzählt hast, sie wissen, dass es nicht der Wahrheit entspricht.«
Dann drehte er sich um und folgte Jeremias.
Nina atmete tief durch und blickte ihm nach. Insgeheim hatte sie gehofft, dass er noch bleiben würde – nur eine Minute, damit er erzählen konnte, was nach seiner Flucht geschehen war. Es interessierte sie brennend. Insgeheim, wenn sie ehrlich zu sich selbst war...
Warum wusste er, dass sie gelogen hatte? Er war bereits auf dem Zug gewesen, als sie der Frau erklärt hatte, dass sie Lewin noch nie gesehen hatte.
Und dennoch war sie sicher, dass sie nicht in Lebensgefahr schwebte. Die beiden Männer übertrieben maßlos.
Nachdenklich ging Nina zurück nach oben in ihre Wohnung und fand einen Stuhl, dem nicht ein Bein abgebrochen war.
Jeremias hatte gesagt, dass sie keine Zeit hätten. Aber dennoch hatte Lewin ihn überredet, herzukommen, um sie zu mitzunehmen. Das bedeutete, es war ihm ernst.
Sie kannte Lewin nicht besonders gut, doch wenn sie eines wusste, dann, das er nichts tat, wovon er nicht überzeugt war.
Sie sprang auf und fluchte über ihre eigene Torheit. Sie hätte auf ihn hören sollen.
In diesem Moment vernahm sie ein leises Brummen von der Straße und sie spähte vorsichtig durch das kaputte Fenster.
Ein schwarzes Auto fuhr langsam die Straße entlang und Nina fluchte erneut. Sie rannte nach unten, packte Geld in ihre Tasche und das Nötigste, das sie sonst noch brauchte und spontan im Chaos fand.
Lewin und Jeremias hatten nicht übertrieben. Sie sah, wie das Auto an der Straßenecke hielt und drei dunkel gekleidete Leute ausstiegen. Vielleicht lag es an ihrer Paranoia, doch sie glaubte, die Frau vom Bahnhof bei Lewins Wohnung zu erkennen.
Ihr blieb keine Zeit. Sie griff nach dem dunkelgrauem Mantel von Lewin, weil sie nicht wusste, wo ihr eigener war und stürmte die Kellertreppe hinab. Die Schneiderei hatte keinen Hinterausgang, wohl aber eine Tür, die in das angrenzende Haus führte.
Sie hing schief in den Angeln und Nina stieß sie so panisch auf, dass sie aus den Angeln flog.
Von oben hörte sie schwere Schritte, eine Frauenstimme die Anweisungen brüllte. Nina zögerte nicht, sondern rannte durch den Keller des Nachbarhauses, nach oben, zur Tür eines Hinterausganges.
Sie achtete nicht auf den Mann, der ihr überrascht nachguckte und irgendeine Frage stellte, die sie in ihrer Angst nicht verstand.
Instinktiv stürmte Nina zum Bahnhof. Ihr Atem flatterte, ihre Seite stach und ihre Lunge brannte wie Feuer.
Der Sturm hatte sich gelegt; die Bahngesellschaft hatte den Betrieb wieder aufgenommen.
Die Stimmen der Reisenden erfüllten das Gebäude und hallten von den Wänden wieder, aber nirgendwo war eine größere Menschenmenge, in der hätte untertauchen können.
Sie hielt den Mantel fest, der ihr über die Schultern zu rutschen drohte. Aus den Augenwinkeln sah sie einen Mann im schwarzen Anzug, der einige Meter hinter ihr lief. Kopflos stürmte sie los – sie wusste nicht, ob er sie wirklich verfolgte, aber... sie schaute zurück – rannte er ebenfalls?
In diesem Moment erblickte sie die Silhouette zweier Männer. Einer trug einen alten Lederkoffer in der linken Hand, sein Begleiter war etwas kleiner und hatte die Hände den Manteltaschen vergraben.
Tosend fuhr ein Zug in den Bahnhof ein und verschluckte zischend jedes Geräusch.
Weißer Rauch erfüllte den Bahnsteig.
»Lewin!« schrie Nina aufgeregt gegen den Lärm.
Einige Leute in ihrer Nähe drehten sich zu ihr um.
Sie rannte weiter, umklammerte den Träger ihrer Tasche und den Mantel. Lewin und Jeremias bemerkten sie nicht.
Sie rannte wieder los, sah, wie die beiden in die Bahn stiegen.
Kurz bevor die Türen zugeschlagen wurden, erreichte sie keuchend den Zug und kletterte hinein.
»Lewin«, keuchte sie aufgeregt und erleichtert.
Er drehte sich sichtlich erstaunt um.
»Nina«, sagte er überrascht. »Was machst du denn hier?«
»Ich... du hattest Recht«, brachte sie schweratmend hervor und senkte den Blick.
»Tut mir leid.«
»Komm erst mal zur Ruhe«, sagte er und schob sie hinter Jeremias her, der sie nur eines kurzen Blickes würdigte und die Tür zu einem leeren Abteil aufschob.
»Du trägst meinen Mantel«, sagte er, als sich der Zug langsam in Bewegung setzte.
»Ich... was?«
Irritiert blickte sie an sich hinab. »Der gehört dir?«
Jeremias nickte.
»Tut mir leid...«, setzte sie stockend an.
Sie wusste nicht, was sie sagen sollte.
»Ich hab ihn ihr gegeben, als sie bei mir war«, erklärte Lewin schulterzuckend.
Jeremias zog eine Augenbraue hoch.
»Ach«, sagte er und musterte Lewin eingehend. »Interessant.«
Nina blickte zwischen den beiden hin und her. Sie hatte das Gefühl, irgendetwas von dem Gespräch verpasst zu haben, doch Lewin winkte ab und wandte den Blick zum Fenster. Der Zug verließ die Stadt und fuhr durch karges Land. Links und Rechts lagen Felder, ab und an durchquerten sie einen Wald.
Jeremias hatte die Augen auf Nina geheftet und betrachtete sie wie ein Adler.
Sie versuchte so zu tun, als würde sie es nicht bemerken, doch innerlich war sie kurz davor, durchzudrehen.
»Wo fahren wir hin?«, fragte sie, als eine halbe Stunde vergangen war, in der niemand etwas gesagt hatte und ihre Nervosität unter Jeremias' Blick unerträglich wurde.
»Zu Freunden nach Chicago«, antwortete er.
Nina stöhnte innerlich. Das waren fast zweihundert Meilen – vor ihnen lagen noch gut sechs Stunden Fahrt.
»Unser Plan ist ein wenig ins Wanken geraten und wir müssen uns neu absprechen. Das Telefon ist zu unsicher und Briefe werden allzu häufig abgefangen...«
»Ihr hattet einen Plan?« rutschte es ihr heraus.
»Sicher. Was denkst du denn?«
Jeremias sah sie an, als wäre sie nicht ganz zurechnungsfähig.
»Wir haben der Miliz, einer großen Organisation etwas wichtiges gestohlen«, begann Lewin bedächtig. »Ohne Plan überlebt man nicht lange.«
Eine kleine fragende Falte stand auf seiner Stirn.
»Es tut mir wirklich leid, dass du da jetzt so mit drinne steckst. Es ist mein Fehler«, fuhr er fort.
Jeremias schnaubte abfällig und stand auf.
»Ich bin gleich wieder da«, murmelte er und verließ mit finsterer Miene das Abteil.
Nina atmete unwillkürlich auf. Die Beklommenheit fiel von ihr, plötzlich hatte sie wieder das Gefühl, frei reden zu können.
»Wer ist das?« fragte sie schnell.
Ein Lächeln huschte über Lewins Lippen.
»Jeremias Murray. Ich kenne ihn schon seit einer Ewigkeit, du kannst ihm vertrauen. So schlimm ist er nicht«, antwortete er.
Nina rollte mit den Augen.
»Einen Teufel werde ich tun«, murmelte sie abfällig.
Lewin lachte leise.
»Du wirst ihn schon noch mögen«, erwiderte er.
Nina schnaubte.
»Wie viele seid ihr?« wollte sie wissen, »In eurer Gruppe, meine ich.«
Lewin sah sie nachdenklich an. »Nicht viele«, antwortete er. »Etwa sechs. Und...«, er verstummte, denn in diesem Moment kam Jeremias zurück.
Nina sah ihn forschend an. So wie er die Lippen zusammenpresste, machte er den Eindruck, er wolle noch etwas Wichtiges sagen.
Stumm seufzte sie in sich hinein und wandte sich zum Fenster.
Mit Jeremias' Anwesenheit war die Atmosphäre wieder angespannter.
Mit Lewin konnte sie reden; sie vertraute ihm, er gab ihr das Gefühl von Sicherheit.
Es war seltsam, denn ein vergleichbares Gefühl hatte sie nur mit Noah gehabt.
Und Noah war tot...
Der Koffer stand in ihrer Reichweite.
Es war einfach zum Verrücktwerden.
»Es ist alles in Ordnung«, sagte Jeremias. Er hielt eine Kaffeetasse in der Hand. »Ich habe geschaut, ob irgendwer von der Miliz im Zug ist. Ich will Anouk nicht schon wieder sehen«
Lewin nickte und atmete auf.
»Wer ist Anouk?« erkundigte sich Nina vorsichtig.
»Das geht dich nichts...«
»Die Frau vom Bahnhof mit den roten Haaren, du erinnerst dich?«, unterbrach Lewin ihn und zuckte mit den Schultern.
Nina nickte erschaudernd.
Lewin ließ sich tiefer in seinen Sitz sinken und schloss die Augen.
Langsam zog die Dämmerung auf.
Sie tat, als würde sie aus dem Fenster die vorbeifliegende Landschaft betrachten, doch aus den Augenwinkeln beobachtete sie ihn.
Jeremias zündete sich eine Zigarette an und inhalierte den Rauch. Er schien tief in Gedanken versunken zu sein.
Nina rümpfte missbilligend die Nase; sie hasste Tabak, doch das würde sie ihm wohl kaum mitteilen.
Auch sie schloss die Augen, versuchte zu schlafen, doch ihre Augenlider hoben sich immer wieder. Sie hatte den Koffer genau im Blick.
Noch nie war sie Noah so nah und dennoch so fern gewesen. Sie musste nur die Hand ausstrecken.
Sie schluckte schwer, warf einen kurzen Blick zu Jeremias, der ebenfalls die Augen geschlossen hatte und beugte sich vor. Ihre Fingerspitzen berührten vorsichtig das Leder. Es war rau, fühlte sich bereits brüchig an.
»Finger weg«, sagte Jeremias in diesem Moment mit einem drohenden Unterton.
Sie zuckte zusammen und zog ertappt den Arm zurück.
Sein Blick schien sie zu durchbohren, festzunageln.
»Versuch es gar nicht erst«, flüsterte er leise. »Es ist gefährlich.«
Sie nickte widerwillig und wandte den Blick ab.
Alle sagten ihr, es sei gefährlich, doch niemand erklärte warum. Sie würde es wieder versuchen und von Jeremias ließ sie sich ganz bestimmt keine Vorschriften machen.
Doch während der Fahrt bot sich ihr keine Möglichkeit mehr, den Koffer zu berühren, denn Jeremias hatte offenbar beschlossen, dass er ihr nicht trauen konnte und ließ sie nicht mehr aus den Augen.
Die Zeit verging schleppend. Nina starrte aus dem Fenster, sah zu, wie es dunkel wurde und ließ sich von ihren Gedanken treiben. Es war lange her, dass sie so viel unterwegs gewesen war wie in den letzten fünf Tagen.
Ihre letzte größere Reise hatte sie vor drei Jahren unternommen, gemeinsam mit Noah – weil ihre Mutter gestorben war und sie zur Beerdigung nach Minnesota mussten.
Nina hatte nicht geahnt, dass sie zwei Jahre später erneut auf der Beerdigung eines geliebten Menschen sein würde. Auf der Beerdigung des besten Menschen, den sie in ihrem Leben getroffen hatte. Nie würde sie den Anblick des Sarges vergessen, der in die gefrorene Erde hinab gelassen wurde, das kahle Grab, weil im Winter nichts wuchs und gedieh.
Sie erinnerte sich an ihre eigene Sprachlosigkeit, ihr Unverständnis über das was geschehen war. Ihre Unfähigkeit zu weinen. Und dann war sie, als die anderen gegangen waren, am Grab zusammengebrochen, hatte geschluchzt und geweint und sich der Verzweiflung hingegeben. Was danach geschehen war, wusste sie nicht mehr. Ihre Erinnerung setzte erst wieder am Kamin im Wohnzimmer ihrer ehemals besten Freundin Lily ein, die sich um sie gekümmert hatte.
Die Tage nach Noahs Tod waren schrecklich gewesen, furchtbar schmerzhaft und so ernüchternd. Man hatte ihr nicht erlaubt seinen Leichnam zu sehen. Man hatte ihr nicht erlaubt, gebührend Abschied zu nehmen und das schmerzte bis heute. Es zerriss ihr das Herz.
Sie wollte ihn noch ein einziges einmal in den Arm nehmen, einmal küssen und vielleicht wäre sie dann in der Lage ein normales Leben zu führen.
Sie wäre trotzdem einsam. Sie hätte trotzdem keine Freunde und bis ihrem Ruf nicht mehr Worte wie »seltsam«, »verrückt« oder »vollkommen verschroben« anhafteten, würden wohl noch einige Jahre ins Land ziehen.
Sie musste sich mit dem Schicksal arrangieren.
Mit quietschenden Rädern kam die Eisenbahn irgendwann mitten in der Nacht zum Stehen. Jeremias sprang auf und riss sie unsanft aus den Tiefen ihrer Gedanken.
Dennoch blieb die beklommene Atmosphäre, die von ihren Erinnerungen ausgingen. Sie folgte Jeremias den schmalen Gang entlang, dicht hinter ihr ging Lewin, den Koffer fest in der linken Hand.
Jeremias sprach kein Wort, während sie den Bahnhof verließen, der nur von wenigen Lampen erhellt wurde. Lewin und Jeremias blickten sich nur wachsam um. Auch Nina war auf der Hut. Aus den Augenwinkeln sah sie ständig schwarz gekleidete Männer, die sie verfolgten und die sich mit einem Blinzeln auflösten.
Sie waren so weit gefahren und Jeremias hatte unterwegs gesagt, der Zug sei sicher.
Konnten die Verfolger überhaupt wissen, wo sie sich befanden?
Aus welchen Leuten bestand die Miliz, dass sie ständig wussten, wo sich Lewin befand?
Das war doch unmenschlich...
Nina wurde wieder klar, wie wenig sie über ihre beiden Begleiter wusste. Lewin hatte angedeutet, dass er einst Teil der Miliz war, doch seine Aussagen blieben undurchsichtig. Sie kannte keinen konkreten Grund, keinen richtigen Anlass...
Und trotzdem hatte Nina keine Angst, mit diesen beiden Männern durch das Land zu reisen. Sie musste noch verrückter sein, als die Leute sie hielten.
»Geht es dir gut? Du bist ganz blass.«
Lewin war zu ihr aufgeschlossen und ging nun neben ihr.
Nina nickte.
»Alles gut«, sagte sie, doch ihre Stimme klang heiser.
Jeremias warf ihnen einen kurzen Blick über die Schultern zu, dann ging er eilig weiter.
Vor dem Gebäude blieben er stehen.
Selbst nachts schien Chicago keinen Schlaf zu kennen. Leuchtreklamen und Straßenlaternen erhellten die Stadt. Aus Kneipen am Straßenrand drangen Stimmengewirr und Musik.
Fasziniert blieb Nina stehen, um sich umzublicken.
Der Schnee auf der Straße war grau vom Kohlestaub, ebenso die Fassaden der Häuser.
Lewin griff nach ihrer Hand und zog sie eilig hinter Jeremias her, der sie in eine schmale dunkle Gasse führte, fernab vom Großstadtleben.
»Wo gehen wir hin?« erkundigte Nina sich möglichst beiläufig. In Wahrheit brannte sie vor Neugier und Zweifel überkamen sie.
»Das haben wir dir doch gesagt«, antwortete Jeremias unwirsch. »Wir müssen unseren Plan besprechen.«
Nina blieb wie angewurzelt stehen.
»Ich mach so nicht weiter«, rief sie entschieden.
Lewin ließ ihre Hand los und blickte sie stirnrunzelnd an. Auf Jeremias Stirn stand eine steile Falte und er machte keinen Hehl daraus, dass er sie am liebsten anschreien würde.
»Sei einfach still, Nina, bitte. Du treibst mich in den Wahnsinn«, zischte Jeremias mit zusammengebissenen Zähnen. Seine Augen blitzten gefährlich in der Dunkelheit.
»Ich habe mir das hier nicht ausgesucht!«, erwiderte Nina heftig. »Glaubst du etwa, ich habe mir das ausgesucht? Glaubst du, es macht mir Spaß, mit euch vor dieser Miliz zu flüchten – OBWOHL ICH NICHT EINMAL GENAU WEISS, WAS GENAU IHR GETAN HABT?«
»Nina!«, unterbrach Lewin sie. »Beruhige dich.«
Doch sie dachte gar nicht daran.
»Halt den Mund«, fuhr sie ihn an. »Du bist nicht besser. Niemand sagt mir, wofür ich ständig mein Leben aufs Spiel setze, aber ihr erwartet, dass ich mich an eure Anweisungen halte – wisst ihr, wie absurd das ist?«
Sie verstummte. Ihr Herz hämmerte.
Irgendwo wurde ein Fenster geöffnet. Es interessierte sie nicht.
»Nina, komm jetzt, wir haben dafür keine Zeit«, erwiderte Jeremias finster und blickte sich unruhig um.
Sie schluckte schwer und schwieg.
Es war seine Unruhe, die ihr ein Gefühl der Genugtuung verschaffte, doch gleichzeitig wusste sie, dass sie von ihm nie etwas erfahren würde.
Herausfordernd blickte sie zu Lewin.
Er zögerte, dann wandte er den Blick ab und seufzte.
»Du steckst in der Sache schon viel zu tief drin, als das es Sinn machen würde, es weiter vor dir geheim zu halten«, sagte er. »Aber du darfst nie mit jemanden darüber reden, klar?«
Sie nickte mechanisch.
Er nahm ihren Arm und zog sie weiter.
»Im Grunde ist die Miliz eine geheime Gesellschaft, die den Koffer besitzt. Woher genau der Koffer kommt, weiß ich allerdings nicht. Als Jeremias, ich und noch einige andere davon hörten, den Koffer zu verkaufen, haben wir ihn gestohlen.«
Die ganze Zeit über sprach er leise, als habe er Angst belauscht zu werden. Jetzt senkte er die Stimme noch mehr.
»Stell dir vor, was passieren würde, wenn der Koffer in falsche Hände geriet – jeder wäre erpressbar.«
»Sei still!« fauchte Jeremias ihn an.
Für einen Moment glaubte Nina, er würde gehorchen, doch Lewin ließ sich nicht beirren.
»Es war meine Aufgabe, den Koffer zu bewachen und das tu ich auch jetzt. Aber sie suchen mich. Sie wollen Rache«, fuhr er fort.
Nina nickte langsam. »Das bedeutet, du bist der Anführer der Gruppe?«
Lewin lachte auf und schüttelte den Kopf.
»Oh nein«, sagte er. »Ich nicht und bevor du fragst: Jeremias auch nicht. Es ist Lorena, du wirst sie gleich kennenlernen.«
Jeremias drehte sich wieder zu ihnen um.
»Ich wäre dir sehr verbunden, wenn du aufhörst auf offener Straße über unsere Geheimnisse zu reden«, sagte er kalt.
Lewin rollte mit den Augen, schwieg aber.
Nina indessen versuchte ihre Gedanken zu sortieren. Plötzlich ergab die Verbissenheit der beiden Sinn. Nicht nur ihr Leben, sondern ihr Ziel, das wofür sie kämpften, stand auf dem Spiel.
In diesem Moment blieb Lewin vor einem unscheinbaren Reihenhaus in einer äußerst schmutzigen Straße stehen. Jede zweite Straßenlaterne war kaputt, weshalb das Licht noch düsterer war, noch diffuser, als ohnehin schon.
Ideal, um sie unauffällig zu verfolgen...
Nina schüttelte den Kopf. Diese Paranoia war nicht zu ertragen. Wie musste Lewin sich nur fühlen, wenn eine scheinbar recht große Organisation nach seinem Leben trachtete?
Lewin holte einen Schlüssel aus der Innentasche seines Mantels und öffnete die Tür.
Im Treppenhaus war es noch dunkler als draußen, hier funktionierte das Licht gar nicht.
Jeremias führte sie zielsicher die Stufen hoch. Sie knarrten beachtlich unter ihren Schritten.
Nina hörte dumpfe Stimmen durch die dünnen Wände, irgendwo weinte ein Kind.
Vor der Wohnungstür im obersten Stockwerk blieb Jeremias stehen und schaute Nina durchdringend an. Seine Augen schien in der Dunkelheit zu leuchten.
»Denk an unsere Abmachung«, wies er sie mit kalter Stimme an.
»Welche Abmachung?«, wollte sie aufgebracht wissen.
»Du bist still und hältst dich aus allem raus«, antwortete er.
Sein rechter Mundwinkel hob sich abfällig, als sie protestieren wollte und die Tür geöffnet wurde.
Vermutlich würde er alles tun, um sie loszuwerden.
Eine Frau mit tiefschwarzem Haar stand im Türrahmen.
»Gott sei Dank seid ihr da«, sagte sie und ließ sie schnell an sich vorbei in die Wohnung.
Der Flur war so schmal, dass sie zu viert kaum Platz hatten.
Die Frau, Nina schätzte sie auf vielleicht dreißig, warf ihr einen kurzen, misstrauischen Blick zu, doch sie sagte nichts.
Nina richtete die Augen auf den Boden. Sie wusste nicht, wohin sie schauen wollte. Die Wände waren kahl, die Tapete löste sich bereits. Die Wohnung wirkte seelenlos.
Sie führte sie in eine Stube, in der ein weiterer Mann saß und ihnen entgegenblickte. Er betrachtete Nina weitaus feindseliger.
»Wir müssen...«, begann Lewin sofort, doch die Frau – wahrscheinlich handelte es sich um Lorena – fiel ihm sofort ins Wort. »Den Plan ändern.«
Lewin und Jeremias nickten.
Nina wünschte, sie könnte sich in Luft auflösen. Sie verschränkte die Arme vor der Brust und überlegte, ob es möglich war, die Wohnung heimlich zu verlassen. Sie wollte keine Sekunde länger mit Jeremias zu tun haben.
»Das ist Nina. Sie ist in die Sache hineingeraten«, erklärte Lewin in diesem Augenblick und schob sie nach vorne.
»So kann man das auch sagen«, murmelte Jeremias düster.
Lorena musterte sie kurz und wandte sich dann an Lewin.
»Was meinst du?«
»Ich habe die Situation falsch eingeschätzt, bin in ihren Laden gekommen bin und kurz darauf tauchte die Miliz auf. Hätte ich sie nicht mitgenommen, wäre sie jetzt wahrscheinlich tot.«
Er warf Nina einen warnenden Blick zu, doch sie hatte nicht die Absicht, verschwiegene Details preiszugeben.
Der Mann, der am Tisch saß, schaute auf.
»Also was ist jetzt mit dem Plan?« fragte er. »Ich kann mir nicht vorstellen, dass wir ewig Zeit haben.«
»Ganz recht, haben wir auch nicht. Also Lewin, pass auf, du musst den Koffer noch einige Zeit behalten. Hugo ist verschwunden.«
»Verschwunden?« wiederholte er ungläubig.
Lorena nickte.
Jeremias stieß einen leisen Fluch aus.
»Tut mir leid«, meinte sie, doch es klang gleichgültig, nicht als würde es sie wirklich beschäftigen.
Lewin nickte.
Nina sah ihn unauffällig an. Ihr fiel auf, dass auch er es nicht wirklich bedauerte, den Koffer zu behalten. Im Gegenteil, beinah wirkte er erleichtert. Sie dachte wieder an das kurze Gespräch, das sie im Zug geführt hatten, als Jeremias verschwunden war.
Irgendetwas Wichtiges hatte er ihr sagen wollen...
Sie musste unbedingt in Erfahrung bringen, was es war.
Jeremias setzte sich neben den Mann an den Tisch und zog ein Zigarettenetui aus seiner Jackentasche.
»Weiß die Miliz, dass ihr hier seid?« wollte der Fremde wissen.
Lewin zuckte mit den Achseln.
»Vorhin wusste sie es noch nicht«, erwiderte er locker.
Er klang überhaupt nicht so, als wäre er ständig auf der Flucht.
Lorena schnaubte.
»Also schön«, sagte sie entnervt. »Du kommst in zwei Wochen wieder, bis dahin ist Hugo sicher wieder aufgetaucht, wenn nicht, haben wir bis einen anderen Plan. Nina kann so lange hier bleiben.«
Sie schreckte auf, als habe sie jemand geschlagen.
»Nein!«, rief sie, doch unter Jeremias' eisigen Blick verstummte sie schlagartig.
Lewin wirkte sichtlich erschüttert.
»Auf keinen Fall«, sagte er heftig. »Sie kommt mit mir.«
Lorena schüttelte entschieden den Kopf.
»Und ich sage, sie bleibt.«
In ihrer Stimme lag ein drohender Unterton.
Nina sah sie gespannt an und warf dann einen ratlosen Blick zu Lewin, der sie jedoch nicht beachtete.
»Es ist viel zu gefährlich für sie, wenn sie bei dir bleibt. Und wir können sie nicht einfach fortschicken«, fuhr Lorena fort. »Dafür weiß sie zu viel.«
»Lorena, das geht so nicht«, setzte Lewin an.
Am liebsten hätte Nina sich eingemischt, ihrer Wut, darüber, wie sie über sie redeten, Luft gemacht.
Als wäre sie nicht erwachsen und könnte nicht selbst über ihr Leben entscheiden.
»Lewin!« fauchte Lorena scharf. »Vergiss nicht, wer hier das Sagen hat. Du hast zwar den Koffer, aber das kann sich ganz schnell ändern.«
Nina schluckte. Sie sah, wie sich Lewins Hand um den Griff so zusammenkrampfte, dass seine Fingerknöchel weiß hervortraten. Es gefiel ihr nicht, wie er sich behandeln ließ, doch er war erpressbar. Die Erkenntnis traf sie wie ein Schlag.
Wenn Lorena hier das Sagen hatte, dann war er ihr im Grunde genommen ausgeliefert, wenn es sein Ziel war, den Koffer zu behalten.
Jeremias warf Lorena einen warnenden Blick zu und schüttelte dann den Kopf. Seine Geste war unmissverständlich: In dieser Sache würde er sie nicht unterstützen.
Unfassbar, dass er sich nach der Auseinandersetzung auf der Straße für sie, Nina, einsetzte.
»Sie bleibt hier«, wiederholte Lorena nachdrücklich, als würde sie keine Widerrede zulassen, doch sie musste wissen, dass sie keine Chance mehr hatte.
Hilflos schaute sie zu dem dritten Mann, der am Tisch saß und in einem Notizbuch blätterte, doch er blieb stumm und hielt sich aus der Diskussion heraus.
»Nein, werde ich nicht«, sagte Nina, verblüfft, wie entschlossen sie klang. Ihre Stimme zitterte nicht im geringsten.
Jeremias blickte sie böse an. »Sei still, wie ich es dir gesagt habe«, zischte er, doch sie ignorierte ihn.
»Wunderbar«, sagte Lewin leise und verabschiedete sich.

Die SchneiderinWo Geschichten leben. Entdecke jetzt