17. Kapitel

15 2 2
                                    

Und plötzlich stand Henry wieder vor ihr.
»Sie haben Besuch«, teilte er ihr mit.
Nina schaute ihn aus leeren Augen an. Es war Tage her, dass sie zuletzt mit Skynner gesprochen hatte. Seitdem war nichts mehr geschehen.
Sie ließ sich von ihm dann den Gang entlang, die Treppen hinauf und in einen grau gefliesten Raum führen, in dem einige Tische mit jeweils zwei Stühlen und einer Lampe standen.
An einem Tisch saß ein Mann mit dunklen Haaren, einem dunkelblauem Mantel, der an Ärmeln und Säumen schon recht zerschlissen wirkte. In seiner linken Hand befand sich ein großer lederner Koffer.
Nina wollte ihren Augen nicht trauen.
Lewin blickte ihr entgegen. Sein Gesicht war noch immer übersäht mit blauen Flecken, doch seine Augen blitzten, selbst jetzt, wo das Licht nur schummrig war.
»Lewin!«, flüsterte sie ungläubig als hätte sie einen Geist vor sich. Jetzt drehte sie vollkommen durch.
Langsam ging sie auf ihn zu.
Es konnte nicht sein...
Sie warf sich in seine Arme und schluchzte hysterisch. Überrascht hielt er sie fest, strich ihr übers Haar, murmelte etwas,dass sie nicht verstand und sie klammerte sich an ihn wie eine Ertrinkende, nahm seinen Geruch in sich auf und fühlte zum ersten Mal seit Tagen wieder Wärme.
Er war am Leben. Sie hatte keine Ahnung wie oder warum, aber er lebte! Wieder schluchzte sie auf, versuchte krampfhaft sich zu beruhigen.
»Nina«, sagte er leise und schob sie von sich.
»Was ist denn los mit dir?«
In seinen Augen standen Sorge und Verwirrung.
Nina sah ihn für einen Moment an, dann holte sie aus und verpasste ihm eine Ohrfeige. Er zuckte zusammen. Sofort zog sie die Hand zurück und schlug sie entsetzt vor den Mund.
»Ich dachte, du wärst tot«, schleuderte sie ihm ins Gesicht. »Ich dachte, ich müsste ohne dich auskommen!«
Wut rauschte plötzlich durch ihren Körper und vermischte sich mit dieser unbegreiflichen Erleichterung.
Er schmunzelte. »Wäre das nicht dein Traum gewesen?«, witzelte er.
Sie fuhr sich über die Augen und schnaubte. Am liebsten hätte sie sich schon wieder in seine kräftigen Arme gestürzt und ihn nie wieder losgelassen.
»Wo ist die Miliz?« wollte sie leise wissen. »Was machst du hier überhaupt? Wie hast du mich gefunden? Was ist passiert?«
Plötzlich stolperten ihr tausend Fragen über die Lippen, doch Lewin hob nur die Hände und brachte sie zum Schweigen.
»Die Miliz ist auf dem Weg hier her«, sagte er leise. »Du musst mitkommen, sonst...«

Er hörte auf zu sprechen, doch Nina wusste schon, was er sagen sollte.
»Wie soll ich hier raus?« fragte sie leise.
»Vertrau mir.«
Sie runzelte die Stirn und konnte nicht den Blick von ihm wenden.
Das hier konnte nur ein Traum sein; Lewin war tot. Sie hätte es geglaubt, doch seine Anwesenheit hatte sich zu real angefühlt, sein Herzschlag, seine Körperwärme, wie fest er sie gehalten hatte.
»Officer?« wandte sich Lewin mit fester Stimme an den wachhabenden Beamten. »Diese junge Frau muss mich begleiten. Ich schwöre ihnen, sie wird innerhalb der nächsten zweiundsiebzig Stunden wieder auftauchten.«
Der Polizist schnaubte.
»Ihr Kopf funktioniert wohl auch nicht mehr richtig?« fragte er herablassend. »Vergessen Sie es, die Frau bleibt hier!«
»Dann nehmen Sie sie verdammt noch mal ernst«, entgegnete Lewin aufgeregt. »Sie versucht die ganze Zeit, euch zu warnen, aber ihr Vollpfosten..«
Der Polizist stöhnte entnervt.
»Ich werde mit Inspector Skynner reden und Sie wegen Beamtenbeleidigung verhaften lassen. Solange warten Sie hier«, sagte er im Gehen.
Nina wollte etwas sagen, doch es gab keine Zeit, denn er kam schon wieder zurück, in seinem Schlepptau Skynner und zwei weitere Männer, die Nina noch nie zuvor gesehen hatte.
»Leider«, begann Skynner in diesem Moment. »Gibt es diese Organisation tatsächlich.«
Er klang alles andere als begeistert, als graute es ihm vor der Arbeit, die auf ihn zukam.
»Und das heißt?« fragte sein Kollege ein wenig nervös.
Skynner zog ihn ein Stück zur Seite und redete mit gedämpfter Stimme auf ihn ein. Nina und Lewin tauschten aufgeregte und ratlose Blicke. Keiner traute sich, etwas zu sagen.
Wenige Minuten später kamen die Polizisten zurück.
»Verschwinden Sie«, sagte Skynner trocken.
»Wie?« fragte Nina verwirrt. »Einfach so?«
Er nickte.
Entgeistert starrte sie ihn an. Konnte es so viel Glück an einem Tag geben?
»Und der Koffer?« wollte sie überrumpelt wissen.
Bevor irgendwer der Beamten antworten konnten, fiel Lewin ihnen ins Wort.
»Den nehmen wir natürlich mit, nicht wahr Inspector Skynner?«
Er nickte verdattert.
»Natürlich«, murmelte er.
Sein Kollege warf ihm einen fassungslosen Blick zu, doch er schwieg.
Nina konnte es nicht glauben, dass die Polizisten sie einfach gehen ließen. Es musste ein Traum sein. Wie in Trance folgte sie Lewin. Am Ausgang übergab Henry ihr den Koffer und warf ihr einen letzten finsteren Blick zu.
Sie traten nach draußen und sofort nahm Lewin ihr den Koffer ab. Sie war viel zu verwirrt, um ihm Vorwürfe zu machen.
Die ganze Zeit rechnete Nina damit, dass irgendwer sie aufhalten würde. Doch irgendwann griff Lewin nach ihrer Hand und zog sie weiter, als wäre es das natürlichste auf der Welt. Eilig und zielsicher führte er sie in eine schmale Seitenstraße, in der ein einziges Auto geparkt war.
Lewin schloss die Tür auf und bedeutete, einzusteigen. Die Koffer lagerte er auf der Rückbank.
Wie in Trance stieg Nina in den Wagen. Sie konnte es immer noch nicht fassen, dass er lebte und dass er hier bei ihr.
»Wie hast du das geschafft?« fragte sie leise, als er den Motor anließ.
»Was?« wollte er wissen und lenkte das Auto auf die Straße.
»Wie bist du der Miliz entkommen? Wie hast du mich gefunden? Und wie zum Teufel hast du es geschafft, mich dort rauszuholen?«
Ungläubig sah sie ihn an. Irgendwo musste es doch diese eine Schwachstelle geben, dieser einen Fehler.
»Ich habe auf sie eingeredet. Du hast doch bemerkt, wie wenig Lust Skynner auf seine Arbeit hat«, antwortete er leichthin. »Dich zu finden war nicht schwer. Man kann nicht sagen, dass du keine Spuren hinterlassen hast. Übrigens solltest du dir etwas anderes anziehen. Das Kleid sieht wirklich aus, als hättest du jemanden ermordet...«
Nina nickte.
»Ich habe aber nichts anderes«, erwiderte sie trocken und blickte an sich hinunter. Lewin hatte Recht. Sie sah grauenhaft aus.
Sie fuhren eine Weile, bis er ruckartig stoppte. Sie standen auf einem Parkplatz in einer Kleinstadt.
»Du musst dir ein neues Kleid kaufen«, erklärte Lewin und deutete nach draußen zu einer kleinen Boutique.
»Das geht nicht«, erwiderte Nina. »Ich hab kein Geld – und schau mich doch nur an. Sie würden mich sofort wieder verhaften.«
Für einen Moment beobachtete sie die Leute, die draußen ihren Geschäften nachgingen.
Lewin seufzte.
»Ach komm schon. Ich gebe dir Geld.«
Entschieden schüttelte sie mit dem Kopf.
»Das kann ich nicht annehmen«, sagte sie »Tut mir leid.«
Lewin blickte sie entnervt an.
»Hat dir schon einmal jemand gesagt, wie verdammt stolz du bist?«, fragte er mit blitzenden Augen. »Wenn du möchtest, kannst du mir jeden einzelnen Cent zurückzahlen. Aber mit diesem Kleid kannst du wirklich nicht rumlaufen.«
Für einen Moment starrte sie ihn entgeistert an. In seiner Zeit der Abwesenheit hatte er sich wirklich nicht verändert.
»Dann kauf du irgendein Kleid«, sagte ungeduldig und nannte ihm seine Größe.
Lewin fuhr sich mit den Fingern über die Stirn.
»Das kann ich nicht«, erwiderte er verunsichert. »Du bist...«
Nina fiel ihm ungehalten ins Wort.
»Du kannst die Polizei davon überzeugen, dass sie mich gehen lässt und behauptest, nicht in einen Laden gehen zu können um ein verdammtes Kleid zu kaufen? Ist das dein Ernst?«
Lewin schnaubte, dann warf er ihr einen ungläubigen, spöttischen Blick zu, stieg ohne ein weiteres Wort aus und betrat den Laden.
Nina lächelte und lehnte sich zurück.
Es dauerte nicht lange, bis Lewin mit einer Papiertüte zurückkam. Er ließ sich auf den Sitz fallen.
»Ich hoffe, es gefällt dir«, sagte er und reichte ihr die Tüte. »Ich habe noch nie ein Kleid für eine Frau gekauft.«
Er lächelte zurückhaltend.
Nina verkniff ein Lachen und zog das Kleid hervor. Sie ließ den glatten Stoff zwischen ihre Finger hindurchgleiten. Die Farbe war merkwürdig – irgendetwas zwischen rot und violett.
»Danke«, sagte sie leise und blickte ihn von der Seite her an, doch er konzentrierte sich schon wieder auf die Straße.
Er fuhr aus der Stadt, langsam wurde es dunkel. Die Straße vor ihnen war weit und leer. Die Scheinwerfer des Autos waren die einzigen Lichtkegel weit und breit und schienen die Dunkelheit und den Frieden der Nacht zu zerreißen. Sie spürte, wie sie langsam müde wurde und wie sich Sekunden zu Stunden dehnten.
Lewin hatte ihr nicht verraten, wie er der Miliz entkommen war.
Nina gähnte ein paar Mal. Sie wollte nicht schlafen, doch die Tage in der Zelle auf dem Polizeirevier waren anstrengend gewesen. Der Motor wiegte sie in einen geradezu verführerischen Dämmerzustand.

Die SchneiderinWo Geschichten leben. Entdecke jetzt