7. Kapitel

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Es fühlte sich seltsam an, in den Koffer zu steigen. Ein wenig lächerlich, in dem Moment, als sie für einen Augenblick im scheinbar leeren Koffer stand, doch dann veränderte sich alles.
Sie blinzelte, setzte den zweiten Fuß in den Koffer und dieser versank unter dem roten Samt und plötzlich ging sie eine Treppe hinab. Das Geländer war kunstvoll geschnitzt, die Stufen wurden von einem abgewetzten roten Läufer bedeckt. Nina blickte zurück und sah nur eine angelehnte, rotbraune Tür mit einem verrosteten Schloss.
Die Treppe führte ins Nichts, ihr Ende war nicht in Sicht. Das Licht war warm und sanft, diffus.
Ninas Herz schlug ihr bis zum Hals, doch sie setzte einen Fuß vor den anderen und mit jedem Schritt wurde sie sicherer. Je tiefer sie stieg, desto ruhiger wurde sie.
Jedes Geräusch war gedämpft. Es war unendlich still. Es war, als würde sie nach langer Abwesenheit endlich nach Hause kommen. Nina fühlte sich sicher, geborgen.
Als sie dachte, die Treppe würde niemals enden, stand sie plötzlich vor einer anderen, dunklen Tür. Nina zögerte kurz, doch dann öffnete sie sie und trat hinaus auf eine Straße.
Ein kurzer Blick genügte, um zu wissen, wo sie war: In der Straße, in der sich ihre Schneiderei befand.
Sie erblickte das Schild, auf das die Nähmaschine gemalt war. Es klapperte leise im Wind. Mit schnellen Schritten ging Nina zu ihrer Schneiderei und stieß die Tür auf. Stoffe lagen sauber sortiert auf dem Tisch, nichts deutete auf das eigentliche Chaos hin. Der Duft von Gebäck und Tee lag in der Luft. Sie hielt inne um diesen Anblick in sich aufzunehmen und um ihn vor ihrem inneren Auge für die Ewigkeit zu konservieren. Wenn Lewin recht hatte, dann würde Noah hier irgendwo sein.
Es war völlig unmöglich... Nina war schlecht vor Aufregung.
Sie drehte sich um und drehte das Schild im Fenster der Tür, sodass von draußen geschlossen dran stand.
Langsam stieg sie die Treppe zur Wohnung hinauf. Jede Sekunde fühlte sich wie eine Ewigkeit an. Nina wünschte, der Frieden, der in diesem Moment über der Schneiderei hing, würde auch noch in der Wirklichkeit existieren.
Licht brannte in der Stube und dort saß Noah.
Für einen kurzen Moment blieb Nina stehen, um sich auch dieses Bild einzuprägen. Kurz darauf blickte er auf.
»Nina«, sagte Noah und beim Klang seiner Stimme schossen ihr beinah Tränen in den Augen. Niemals hätte sie es auch nur gewagt zu denken, diese Stimme noch einmal in ihrem Leben zu hören.
Nina konnte nichts sagen, kein Wort kam ihr über die Lippen. Seit einem Jahr hatte sie ihn nicht mehr gesehen und jetzt saß er einfach in ihrer Stube und alles war, wie es sein sollte.
»Was ist los?« fragte er überrascht.
Nina lächelte glücklich.
»Nichts«, hauchte sie und blinzelte.
Er stand auf und kam mit langsamen bedächtigen Schritten auf sie zu.
Vor ihr blieb er stehen und schaute auf sie hinab.
Wie in Zeitlupe schlang sie die Arme um ihn und zog ihn an sich. Sie hielt die Augen geschlossen, atmete seinen Duft ein, nahm seine Wärme in sich auf. Sie konnte nicht glauben, dass das hier wirklich geschah.
Ihr Herz schlug über vor Freude, schlug noch heftiger, als damals, als sie sich in ihn verliebt hatte.
»Oh Noah«, flüsterte sie und merkte erst da, dass sie schluchzte.
Er ließ sie los und hielt sie ein Stück von sich um sie anzusehen.
Ein wenig beschämt wischte sie sich die Tränen aus den Augenwinkeln.
»Was ist los mit dir?«, wollte er wissen. »Du bist so...«
»Ich bin glücklich«, fiel Nina ihm ins Wort und lächelte. »Ich bin glücklich, weil du hier bist und weil ich hier bin und...«
Ein strahlendes Lächeln breitete sich auf ihren Lippen aus.
Noah legte die Stirn in Falten.
»Geht es dir gut?«, fragte er besorgt und strich mit der Hand über ihre Wange.
Nina nickte. »Ich war lange nicht mehr so glücklich!« rief sie. »Mach dir keine Sorgen.«
Noah hob fragend eine Augenbraue. Nina starrte ihn an.
Ihre Augen glänzten. Er war hier. Er war wirklich hier bei ihr, lebte und sprach mit ihr. Vorsichtig streckte sie die Hand aus und streichelte ganz langsam, zaghaft fast, als habe sie Angst, er könne sich in Luft auflösen, über die Wange. Seine Haut war warm, ein wenig rau. Sie konnte den Blick nicht von ihm wenden.
»Ist wirklich alles in Ordnung mit dir?«, erkundigte er sich. Eine kleine Falte stand auf seiner Stirn. Nina nickte.
"Komm", sagt er und  ließ sich wieder auf das Sofa sinken. Er schaute sie fragend an.
Es gab kaum etwas Schöneres. Wenn es nach ihr ginge, könnte sie Noah ein Leben lang dabei beobachten, wie er Zeitung las, wie sich sein Gesicht missbilligend verzog oder ein leichtes Grinsen über sein Gesicht huschte.
Doch nach wenigen Minuten sah er auf.
»Du machst mich ganz nervös«, sagte er.
Nina schluckte und wurde irgendwie zurück in die Realität katapultiert.
Für einen Moment dachte sie an das triste Leben ohne ihn und ihr wurde kalt.
»Es tut mir Leid«, sagte sie. »Es ist nur so... in Wirklichkeit bist du tot und... ach ich kann es einfach nicht ertragen!«
Die Worte platzten einfach aus ihr heraus. Hilflos hob sie die Schultern und verschränkte dann die Arme vor der Brust.
Noah sah sie an, als wäre sie nun endgültig übergeschnappt.
»Ich bin nicht tot«, sagte er entschlossen. »Wie kommst du darauf? Ich sitze hier. Ich rede mit dir.«
Er nahm ihre Hand und legte sie an die Stelle seiner Brust, an der sich sein Herz befand. Es klopfte wie wild.
»Ich bin da, Nina. Du spürst es«, sagte er eindringlich.
Nina schloss die Augen und nickte.
»Ich weiß«, sagte sie heiser. Tränen liefen über ihre Wangen.
»Aber das ist nur in meiner Vorstellung. Das ist nicht real.«
»Nina!«
Entrüstet blickte er sie an. »Was zum Teufel redest du da?«
Sie setzte an, etwas zu antworten, doch die Worte ließen sie im Stich.
Was, wenn er Recht hatte? Wenn alles um sie herum die Wirklichkeit, die Wahrheit war und das ganze vergangene Jahr nur ein schlechter Traum?
Dann war sie dankbar und froh, dass sie endlich erwacht war...
Nina setzte sich neben ihn auf das Sofa und lehnte den Kopf an seine Schulter. Sie spürte seinen ruhigen Atem, hörte seinen Herzschlag. Ihre düsteren Gedanken wichen einem Gefühl der Wärme und Geborgenheit. Noah streichelte ihr durchs Haar, spielte mit ihren Locken. Sie schwiegen. Draußen wurde es langsam dunkel, der Laternenanzünder sorgte für neues Licht... alles war so friedlich.
»Ich glaube ich habe nur schlecht geträumt«, murmelte Nina irgendwann in die Stille hinein.
»Du bist vollkommen übermüdet. Du arbeitest zu viel«, erwiderte er sanft, aber entschieden. »Du solltest dir wirklich mehr Zeit für dich nehmen.«
Nina nickte einsichtig.
»Das werde ich«, erwiderte sie abwesend.
Plötzlich ertönte Lärm von unten und zerriss die warme Atmosphäre.
Nina schreckte wie von der Tarantel gestochen auf und auch Noah hob den Kopf.
»Da ist jemand im Laden«, flüsterte sie aufgeregt.
Plötzlich hatte sie das Gefühl, all das schon einmal – in weiter Vergangenheit – erlebt zu haben.
Sie konzentrierte sich, lauschte. Da waren eindeutig Schritte und es hörte sich an, als würden Dinge verschoben werden.
Sie sprang auf und wollte nach unten laufen, doch Noah hielt sie im letzten Moment zurück.
»Warte!«, wies er sie an.
Und bevor sie reagieren konnte, hastete er die Treppe hinab. Für einen Moment blieb sie einfach stehen, dann folgte sie ihm.
Sie hörte überraschte Rufe, dann einen erschrockenen Aufschrei von Noah und ihr Herz krampfte sich zusammen. Auf den oberen Stufen blieb sie stehen und blickte panisch über das Treppengeländer.
Noah lag im Flur und die Farbe wich ihm aus dem Gesicht, während Blut den Teppich tränkte. Mit flackernden Augen schaute er zu ihr auf, seine Lippen bewegten sich und er versuchte, sich aufzusetzen.
Nina war gelähmt vor entsetzen, sie wollte zu ihm laufen, ihm helfen, doch sie konnte sich nicht bewegen. Ein schwerer Stiefel traf auf Noahs Schläfe. Für einen Moment sah er überrascht aus, dann sank er bewusstlos zurück.
Und Nina tat nichts, um sie herum drehte sich alles. Aus den Augenwinkeln nahm sie war, wie zwei schwarzgekleidete Personen die Schneiderei verließen.
Verschwommen vernahm sie, wie irgendwo eine Frau schrie, doch sie merkte nicht, dass es ihr eigener entsetzter Schrei war, der das Haus erfüllte.
Sie wusste nur noch, dass all das schon einmal passiert war. Alles drehte sich.
Sie befand sich nicht in der Realität, sondern irgendwo, in einem Gewebe aus Traum und Vorstellung – irgendwo fernab der Wirklichkeit. Was hier passierte, war nicht real. Noah würde einfach wieder aufstehen können...
Doch er blieb reglos auf dem Boden liegen. Nina klammerte sich an das Treppengeländer, schwarze Flecken tanzten vor ihren Augen. Und aus dem Hintergrund sah sie eine weitere Gestalt und auch diese Szene hatte sie schon einmal erlebt. Sie spürte, wie ihr jemand die Arme um die Taille schlang und sie den Boden unter den Füßen verlor.
Sie wollte schreien, etwas sagen, doch ihre Kehle war so trocken, das kein Wort über ihre Lippen kam.
Auch das war schon einmal passiert.

Sie blinzelte und plötzlich befand sie sich auf der Straße, dann auf der Treppe. Panisch blieb sie stehen, hielt inne.
Die Dunkelheit beruhigte sie etwas, doch vor ihrem inneren Auge hatte sich Noah eingeprägt.
Noah, der leblos auf dem Boden lag, mit flachem Atem, während rotes Blut viel zu schnell aus einer Verletzung am Kopf rann.
Oh Gott, sie musste zurück, ihm helfen.
Sie musste schauen, was los war, doch sie konnte nicht stehen bleiben, es war, als hätte sie keinen freien Willen mehr.
Ihre Seite stach und jeder Atmenzug war eine Anstrengung, doch sie stieg weiter die Treppe hinauf, bis sie schließlich die Tür erreichte und hindurch stürzte, als sei sie auf der Flucht.
Vielleicht war sie das auch; Nina wusste es nicht mehr. Sie erlebte die Realität, sie erlebte nicht die Realität. Sie träumte und sie träumte nicht.
Alles drehte sich.

Die SchneiderinWo Geschichten leben. Entdecke jetzt