15. Kapitel

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Der Schaffner kam zurück, gerade als der Zug langsam zum Stehen kam. Mechanisch folgte sie ihm den schmalen Gang entlang nach draußen. Er steuerte auf ein kleines Gebäude am Bahnhof zu, doch Nina drehte sich um und rannte davon. Sie hatte keine Zeit, sich mit den Regeln der Bahngesellschaft auseinanderzusetzen oder mit einem Polizisten zu diskutieren.
Sie hörte, wie der Schaffner ihr etwas nachrief und ihr dann folgte. Sie stürmte durch die Straßen, als wäre der Teufel hinter ihr her.
Lewin war nicht da, Lewin war tot und der Schmerz darüber zerriss sie förmlich. Sie wünschte, sie könnte vor dieser Schuld davonlaufen, flüchten, doch ihrem Gewissen konnte sie nicht entkommen. Sie musste den Koffer aus der Schusterei holen.
Alles andere war verdrängt, nebensächlich.
Schweratmend kam sie an, keuchend stolperte sie über die Schwelle.
Der Schuster sah sie aus überraschten Augen an.
»Der Koffer«, brachte Nina zwischen zwei Atemstößen hervor und stützte die Hände auf die Knie.
»Aber...«, sagte er langsam.
Plötzlich flog krachend die Tür auf und weitere Leute stürmten in der Schusterei. Sie waren in Schwarz gekleidet und ein Mann mit einem ungewöhnlich hellem Auge, hielt eine Pistole ausgestreckte und zielte.
Nina keuchte erschrocken auf und stolperte.
»Ich habe nicht vor, zu schießen«, sagte der Mann kühl. Seine Stimme war leise und berechnend und jagte Nina einen Schauer über den Rücken.
»Geben Sie mir den Koffer und niemand wird verletzt«, forderte er mit klarer Stimme.
Es war totenstill. Man hätte eine Stecknadel auf den Boden fallen hören können.
Nina schüttelte heftig mit dem Kopf.
Ihr Blick huschte panisch umher, suchten einen Ausweg: Drei Leute standen ihr gegenüber, vermutlich waren sie alle bewaffnet.
Selbst wenn sie eine Waffe hätte, würde das ihre Chance, lebend davonzukommen, nur minimal heben.
»Ihr habt Lewin umgebracht!« stieß sie heiser hervor. Langsam beruhigte sich ihre Atmung und sie konnte wieder sprechen.
»Haben wir nicht«, antwortete der Mann mit der Waffe.
Nina runzelte die Stirn. Lewin war tot, sie hatte den Schuss gehört, der Zug war in voller Geschwindigkeit unterwegs gewesen... Eine aberwitzige Hoffnung machte sich in ihr breit. Vielleicht... aller Wahrscheinlichkeit zum Trotz... Sie durfte sich nicht ablenken lassen.
»Sie haben sich nicht an Ihre Abmachung gehalten«, schleuderte sie ihm entgegen.
Der Mann schnaubte abfällig.
»Das sagst ausgerechnet du, du kleine Schlampe.«
Er lachte verächtlich.
»Was geht hier überhaupt vor?« fragte der Schuster. »Ich möchte Sie bitten zu gehen. Es gibt keinen Grund, dieses junge Fräulein derartig zu behandeln, sie hat Ihnen...«
Nina wusste, was geschehen würde. Der Schuss löste sich aus der Waffe und sie warf sich auf den Boden, doch es blieb keine Zeit, den Schuster zu warnen oder ihn ebenfalls zu Boden zu reißen. Die Kugel fuhr durch seine Brust und schlug in ein Gefäß ein, dass zersprang. Eine braune Flüssigkeit breitete sich schnell auf dem Boden aus.
Nina sah, wie der Mann zu Boden sank, die Hand auf die Wunde presste, während Blut durch seine Finger sickerte. Das Entsetzen stand ihm ins Gesicht geschrieben.
Nina hatte das Gefühl, Eis würde durch ihre Adern fließen.
Erst ein weiterer Schuss riss sie aus ihrer Schockstarre. Sie warf sich zur Werkbank und erreichte den Koffer. Ein Schrei erfüllten die Luft, schmerzvolles Stöhnen. Eine Lache aus Blut breitete sich immer weiter auf dem Boden aus, der Schuster war in sich zusammengesunken, seine Lippen bebten. Nina konnte seine Worte nicht verstehen. Das Leben wich mit jeder Sekunde aus ihm.
Sie konnte nicht klar denken, musste nur hier raus, musste irgendwie überleben.
Mit dem Koffer unter dem Arm kroch sie über den Boden zur Hintertür. Sie versuchte, einen kühlen Kopf zu bewahren, doch weitere Schüsse fielen und schlugen Zentimeter neben ihr in den Boden ein. Jedes Mal zuckte sie zusammen. Jedes Mal rechnete sie damit, getroffen zu werden.
Weitere Schreie – es mussten noch mehr Leute hinzugekommen sein, Leute, die durch den Lärm neugierig geworden waren.
Die Tür näherte sich. Der Mann mit der kalten Stimme schrie etwas, sie hörte das Klacken, als er das Magazin nachlud und – endlich – erreichte sie den Ausgang. Sie sprang auf, riss die Tür auf und stürzte nach draußen. Tränen liefen ihr über die Wangen.
Bevor irgendwer ihr folgen konnten, schlug sie die Tür zu und rannte los.
Die Luft war wie Säure, die sich durch ihre Lunge fraß, der Wind wie Nadelstiche in ihrem Gesicht, ihre Seiten brannten wie Feuer.
Nina erreichte den Bahnhof und sie hatte Glück. Ein Zug setzte sich gerade in Bewegung und es gelang ihr – wider aller Erwarten und aller Fähigkeiten – aufzuspringen, ohne dabei unter die Räder zu geraten und von Tonnen aus Metall und Eisen zerfetzt zu werden. Sie presste sich an den Waggon, der Wind riss an ihrem Kleid und ihren Haaren. Stimmen rauschten in ihren Ohren, Sternchen tanzten vor ihren Augen.
Der Zug verließ den Bahnhof und brauste über ödes Land Richtung Sonnenaufgang.

Die SchneiderinWo Geschichten leben. Entdecke jetzt