18. Kapitel

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Am nächsten Morgen schien die kalte Wintersonne durch den Spalt in die Vorhänge ins Zimmer. Nina blinzelte verschlafen – und saß kerzengerade im Bett, als sie bemerkte, dass sie nicht allein war. Dann stieß sie ein erleichtertes Seufzen aus, als die Erinnerung an die vergangene Nacht, ihrer Ankunft kam und sie ließ sich zurück ins Kissen sinken.
Seit einer Ewigkeit hatte sie nicht mehr so gut geschlafen wie in dieser Nacht. Gedankenverloren betrachtete sie Lewin und wieder spürte sie den Drang, ihm ein wenig näher zu sein.
Sie schämte sich dafür – sie hatte das Gefühl, allein durch den Gedanken, Noah zu betrügen. Doch er war tot und... sie streckte die Hand aus und schob Lewin sanft eine Haarsträhne aus der Stirn. Bevor er es bemerkte, zog sie die Hand wieder zurück und verbarg sie unter der Decke.
Lewin lag so friedlich da; er sah nicht aus, als wäre er jede Sekunde auf der Flucht, als müsste er jeden Tag um sein Leben fürchten.
Nina stand auf und begann sich die Haare zu bürsten.
Im Spiegel sah sie, wie Lewin sich regte.
»Guten Morgen«, sagte sie ohne sich umzudrehen.
»Morgen«, erwiderte er mit rauer Stimme und blickte sich verwirrt um.
»Was ist los?« fragte sie und wandte ihm doch den Blick zu.
Lewin schüttelte den Kopf. »Nichts, ich habe nur geträumt, dass...«
Er schüttelte den Kopf und winkte ab.

Im Speisesaal saß noch ein weiterer Mann. Er blickte nicht von seiner Zeitung auf, als er Nina und Lewin hereinkommen hörte. Auf seinem Tisch stand eine Tasse mit Kaffee und eine Schachtel mit Zigaretten.
Sie ließen sich an einem Tisch nieder und kurz darauf kam auch schon die Frau, die das Motel führte mit einem Tablett und einer Kaffeekanne.
»Gut geschlafen?« fragte sie verschwörerisch.
Lewin nickte und Nina rollte an ihn gewandt unauffällig mit den Augen. Er zwinkerte ihr zu.
»Fahren Sie heute weiter?« wollte sie neugierig wissen und schenkte ihnen Kaffee ein.
Lewin nickte. »Nach Arizona«, antwortete er und bestrich eine Scheibe Brot großzügig mit Marmelade.
Die Frau nickte.
»Dann haben Sie eine gute Fahrt. Lassen Sie das Geschirr einfach stehen, wenn Sie fertig sind.«
Sie ging und Nina begann zu lachen.
Der Mann am Nebentisch warf ihr einen irritierten Blick zu.
Lewin biss in sein Marmeladenbrot und schüttelte nur den Kopf.
»Du solltest häufiger lachen«, sagte er plötzlich und sie verstummte schlagartig und senkte den Blick.
Er sagte das wie eine Feststellung, nicht wie ein Kompliment und genau das war der Grund, warum sie rot anlief. Sie hatte mit einem Mal das Gefühl, er würde etwas in ihrem Inneren durchschauen, als würde er mehr über sie wissen, als sie ahnte.
Sie schwiegen, die gelöste Atmosphäre war schwerer geworden, Nina fühlte sich hin und hergerissen zwischen Trotz und Eingeständnis.
Über den Tassenrand hinweg betrachtete sie Lewin, während sie ihren Kaffee trank.
In ihm schienen sich Gedanken und Gefühle nicht so zu überschlagen. Seelenruhig blätterte er durch die Zeitung, während er Zucker in seinen Kaffee rührte.
Nina schluckte. Er sah so versunken aus, während er das tat, das es nicht danach aussah, als würde er in Wirklichkeit jeden Morgen woanders aufwachen... als hätte er ein ganz normales Leben.
Nina zwang sich, den Blick abzuwenden. Etwas in ihr hatte sich verändert. Sie hätte nicht gedacht, dass diesen Drang, ihn zu berühren, nur ganz sanft, die Nacht überdauern würde.
»Können wir los?« fragte Lewin plötzlich und faltete die Zeitung wieder zusammen. In einem Zug trank er seinen Kaffee und stand auf.
Nina nickte unruhig und folgte ihm durch das Foyer nach draußen auf den Parkplatz. Im Tageslicht konnte sie erstmals die Landschaft ausmachen. Sie befanden sich in einer kahlen Wüstengegend, nur am Horizont erhoben sich vereinzelte Berge.
Es gab nichts bis auf die Straße, die sich wie ein Band aus Beton vor ihnen ausbreitete.
Nina ließ sich auf den Beifahrersitz fallen und starrte geradeaus.
Lewin verstaute den Koffer, dann setzte er sich hinter das Steuer und stellte das Radio an. Es knirschte und rauschte in der Leitung und er seufzte frustriert.
»Fahren wir wirklich nach Arizona?« wollte Nina wissen.
Lewin wandte sich ihr zu und zuckte mit den Schultern.
»Ich weiß es nicht«, antwortete er nachdenklich.
Er blickte ihr in die Augen, doch sie hatte das merkwürdige Gefühl, er würde durch sie hindurch schauen.
»Du hast da etwas«, sagte er plötzlich und zupfte ihr eine Fussel aus dem Haar.
Sie hatte das Gefühl, ein leichter Stromstoß würde durch ihren Körper fahren. Sie schloss kurz die Augen,um sich zu sammeln – er konnte ja nicht ahnen, was in ihr vorging.
Lewin ließ den Motor an. Kurz stotterte er, dann schnurrte er wie eine Katze.
Und Nina hielt die Spannung in sich nicht mehr aus.
»Lewin«, sagte sie entschieden, kurz bevor er Gas gab.
Er wandte sich wieder zu ihr um und bevor sie wusste, was sie tat und bevor er wusste, wie ihm geschah, beugte sie sich vor und presste ihr Lippen auf seine.
Der Kuss war nicht sanft und auch nicht zärtlich. Viel mehr war er schmerzhaft und dauerte auch nur wenige Sekunden, bis Lewin seinen Schock verarbeitet hatte und Nina zur Besinnung kam.
Sie fuhren auseinander.
»Nina!« rief er erschrocken.
Sie schluckte schwer und blickte starr aus dem Fenster. Jetzt wurde sie völlig verrückt, ganz eindeutig.
Vielleicht hatten die Polizisten Recht und sie war doch nicht ganz zurechnungsfähig.
»Fahr los«, sagte sie nüchtern.
Ihr war schwindelig, ihr ganzer Körper kribbelte.
Und Lewin drückte auf das Gaspedal und bog auf die leere Straße ein.
Keiner sagte etwas. Das Radio knisterte und rauschte, die Sonne blendete.
Nina bereute nicht, dass sie ihn geküsst hatte, doch sie hasste die Distanz, die plötzlich zwischen ihnen stand.
Sie hätte es wissen müssen.
Nach einer halben Stunde hörte das Knistern im Radio endlich auf und Musik erklang. Der Ton war schlecht, doch er füllte die Stille zwischen ihnen.
Lewin blickte konzentriert auf die Straße. Nicht ein einziges Mal warf er ihr einen Seitenblick zu.
»Wir haben die ganze Zeit so getan, als sei ich deine Affäre«, sagte Nina irgendwann mit einer Spur Trotz in der Stimme.
»Da werde ich dich wohl ein einziges Mal küssen dürfen. Es wird nie wieder passieren.«
Lewin drosselte ein wenig das Tempo. Über sein Gesicht glitt ein Lächeln.
»Ich bin nicht wütend auf dich«, sagte er.
Nina hob eine Augenbraue.
»Ach ja?« fragte sie. »Weshalb redest du nicht mit mir?«
»Das gleiche könnte ich dich fragen«, antwortete er trocken.
Sie seufzte.
»Es tut mir leid«, sagte sie ergeben. »Es war nur... ich weiß nicht.«
Hilflos zuckte sie mit den Schultern und blickte aus dem Fenster. Sie wollte nicht sehen, was in seinem Gesicht vor sich ging – den stummen Vorwurf.
Lewin fuhr das Auto an den Rand und hielt an.
»Ich verstehe dich nicht, Nina«, sagte er.
Sie pustete sich eine Haarsträhne aus der Stirn.
»Glaubst du, ich kann nachvollziehen, warum du all das tust?« entgegnete sie heftig. Sie musste an all ihre Fragen denken, denen er immer wieder auswich.
Lewin seufzte und klopfte ungeduldig auf das Lenkrad.
»Das meine ich gar nicht«, sagte er.
»Was meinst du dann?« erwiderte sie aufgebracht.
Lewin sah sie von der Seite an. In seinen Augen lag ein trauriger Ausdruck, als hätte sie ihn verletzt oder als müsste sie wissen, wovon er sprach.
Nina wartete ungeduldig, doch er sagte nichts, sondern gab wieder Gas und fuhr zurück auf die Straße.
Jetzt bereute sie den Kuss doch. Die Stille zwischen ihnen war kaum zu ertragen.
Sie schwiegen, das Radio dudelte vor sich hin, mal rauschte und knisterte es, dann war der Ton wieder klar. Nina blickte starr geradeaus und rührte sich nicht.

Die Wüste glitt an ihnen vorbei, kalt und gefühllos. Sie waren mitten im Nirgendwo.
Lewin hielt erst wieder an, als sie tanken mussten.
Die Tankstelle gab ein merkwürdiges Bild ab – bunte Leuchtreklame mitten im Nichts.
Der Tankwart, ein bärtiger Mann mit einem Zigarettenstummel im Mundwinkel, hob grüßend eine Hand.
Nina stieg aus, um sich ein wenig die Beine zu vertreten und um für ein paar Minuten der Enge des Autos und Lewin zu entkommen.
Draußen war es eiskalt. Zum ersten Mal seit Langem dachte sie an ihr Zuhause, an die Schneiderei und ihr Herz wurde schwer.
Der Koffer musste vernichtet werden.
Lewin kam und blieb stumm neben ihr stehen.
»Wir könnten den Koffer irgendwo hier vergraben und wären ein großes Problem los«, schlug sie vor.
Niemand würde je die ganze Wüste umgraben, weil er auf die Suche nach einem Gegenstand war. Es wäre die Lösung...
»Die Idee ist nicht schlecht«, befand Lewin und sah sie an. »Aber es geht nicht. Wir sind mit Lorena verabredet.«
»Achso.«
Nina tat, als würde sie verstehen, wovon er sprach. In Wahrheit hatte sie keinen blassen Schimmer und sie fühlte sich schon wieder hintergangen. Mal wieder hatte Lewin sie nicht in seine Pläne eingeweiht – von wegen, er wusste nicht, wohin sie fahren sollten!
Wütend schlang sie den Mantel fester um sich und verschränkte die Arme vor der Brust und ließ ihn einfach stehen, ging am kleinen Kassenhäuschen vorbei und blickte Richtung Horizont. Die Wüste war weit und endlos, die Berge waren keinen Zentimeter näher gekommen.
Nina schluckte. Sie wollte das alles nicht mehr. Sie wollte nach Hause, zurück in ihr altes Leben, obwohl es öde und trist war.
Sie wollte zurück in die Schneiderei, ihr Leben in Ordnung bringen. Was hatte sie sich nur dabei gedacht, als sie Lewin gefolgt war?
Sie fuhr zusammen, als sich eine Hand auf ihre Schulter legte.
»Es tut mir leid«, sagte Lewin leise.
Nina runzelte die Stirn. »Du hast nichts getan«, gab sie unwirsch zurück, dabei gab es genug, wofür er sich entschuldigen konnte.
»Ich sollte mich bei dir entschuldigen.«
»Dir ist kalt«, stellte er fest.
Nina kniff die Augen zusammen. »Mir ist immer kalt«, murmelte sie.
Lewin lächelte mitleidig und legte einen Arm um sie.
Die Wärme, die sie überkam war überwältigend.
»Warum tust du das alles?« fragte sie. »Warum hast du mich nicht einfach bei der Polizei versauern lassen?«
Er zuckte mit den Schultern.
»Ich weiß es nicht. Du bedeutest mir halt nicht nichts. Du bist...«
Er verstummte, als ein Auto in die Tankstelle einbog.
»Wir sollten weiterfahren«, sagte er und zog sie mit sich. Nina seufzte.
Wahrscheinlich würde sie nie eine Antwort auf all ihre Fragen bekommen. Aber wenigstens redete er wieder mit ihr. Mit schnellen Schritten gingen sie zurück zum Auto. Türen knallten und dann fuhren sie wieder los.
Nina zog die Beine an die Brust. Sie fühlte sich ausgelaugt, leer.
Sie wünschte, diese Fahrt wäre vorbei, sie wünschte das Gespräch mit Lorena läge hinter ihnen... Sie wünschte, es gäbe so etwas wie Ruhe.
Lewin schaltete wieder das Radio ein und Nina zog nach einer weiteren Stunde Fahrt das kleine Heft mit den Nadeln und den Faden aus ihrer Jackentasche und begann ihr Taschentuch zu besticken. Sie tat es nicht, weil das Ergebnis einen Nutzen haben sollte, sondern um beschäftigt zu sein und nicht ständig ihren leeren Gedanken nachzuhängen. Ohne dass sie es bemerkte, begann sie die Melodie aus dem Radio mitzusummen.
Lewin warf ihr immer wieder einen Blick zu; die ganze Zeit lächelte er.

Die SchneiderinWo Geschichten leben. Entdecke jetzt