12. Kapitel

11 3 2
                                    

»Versteck den Koffer irgendwo. Wenn die Miliz nicht weiß, wo er ist, werden sie dich auch nicht umbringen.«
Nina dachte einen Moment nach.
»Das ist nicht schlecht«, befand sie und wich seinem Blick aus.
»Aber das rettet Lewin auch nicht. Außerdem kann ich nur über den Koffer in die Schneiderei kommen«, sprudelte es schließlich aus ihr hervor.
Noah runzelte die Stirn. »Verstehe. Lewin«, murmelte er, doch Nina achtete nicht auf ihn. »Hörst du? Ich kann den Koffer nicht weggeben!«
Noah sah sie an.
»Heißt das, wir befinden uns gerade in deinem Traum«, fragte er ungläubig.
»Das kann doch nicht dein Ernst sein!«
Nina wischte sich eine Haarsträhne aus der Stirn.
»Ich weiß selbst nicht mehr, was wahr und was richtig ist«, rief sie. »Lewin hat mir gesagt, durch den Koffer gelangt man in seine größten Träume. Ich habe keine Ahnung, ob es noch andere mögliche Szenarien gibt.«
»Ist aber schön, das ich scheinbar Teil deiner größten Träume bin«, sagte Noah leise und zwinkerte ihr zu.
Er lächelte, aber sie wusste nicht, ob er das ernst meinte, oder ob er sie verspottete.
Sie stützte den Kopf in die Arme und vergrub das Gesicht in den Händen.
»Ich weiß nicht, was ich tun kann«, murmelte sie gedämpft.
Und jetzt kam auch noch die Sorge hinzu, dass Noah ihr etwas verschwieg... Etwas in seiner Art, wie er redete und wie er Lewins Name aussprach, verwirrte sie.
»Ich habe keine Ahnung...«
Einige Sekunden vergingen, dann spürte sie, wie sich eine Hand auf ihren Rücken legte und langsam auf und ab strich. Eine warme Welle der Geborgenheit erfasste ihr Herz und sie verharrte, nur weil sie nicht wollte, dass das Gefühl aufhörte. Die Wärme in ihr hielt an und verdrängte die Zweifel, füllte sie aus und sie hob den Kopf. Noah zog seine Hand nicht zurück, sondern berührte ihr Haar, als habe er es noch nie zwischen seinen Fingern gespürt. Er spielte mit ihren Locken und sein Blick war so intensiv, dass sie Angst hatte, zu vergehen in der Liebe, die ihr Herz überschwemmte.
Der Moment dehnte sich, Nina erwiderte seinen Blick. Das Kerzenlicht flackerte und sie hatte das Gefühl jedes Detail ungewohnt deutlich, geradezu übersensibel wahrzunehmen. Noahs warme Finger, die Zeichen auf ihren Rücken malten, sein Blick, der auf ihr ruhte...
Nina vergaß, dass sie es eilig hatte. Dieser Augenblick war alles. Draußen begann es zu regnen, die Tropfen klopften gegen das Fenster. Alles schien in Zeitlupe zu passieren. Nina stand langsam auf und legte die Arme um ihn und er hörte nicht auf, mit den Fingern über ihren Rücken zu streicheln. Ninas Herz raste, als wäre sie frisch verliebt, ihr Inneres flatterte und ihre Haut glühte fiebrig. Ihr war schwindelig, plötzlich schien der Raum kleiner zu werden, sie drängte sich gegen ihn und vergrub das Gesicht an seinem Hals.
Noah küsste sie auf die Wange, streichelte über ihr Gesicht und Nina verlor den Boden unter den Füßen. Sie klammerte sich an ihn, er war noch das einzig standhafte in diesem winzigen Zimmer im flackernden Licht ohne Boden.
Sie hob den Kopf, sah ihn an. Seine Augen funkelten dunkel im Kerzenschein und er sah sie an, als würde er sie nie wieder ziehen lassen.
Ihr Gehirn war ausgeschaltet, ihre Sinne hatten die Kontrolle über sie übernommen. Sie spürte, wie Noah sie noch enger zu sich zog und so standen sie eine ganze Weile da, eng umschlungen wie zwei, die nur noch einander hatten. Irgendwann beugte sich Nina vor, langsam, wie in Zeitlupe und küsste zart, fast ohne ihn zu berühren, seinen Mundwinkel, dann stellte sie sich auf die Zehenspitzen und hauchte ihm einen Kuss auf die Stirn. Und schließlich küsste sie ihn auf die Lippen und es war ein Kuss voller Wärme und Gefühl, voller Liebe und Zärtlichkeit, ein Kuss der niemals enden wollte und von dem sich der Teil von Ninas Kopf, der noch funktionierte wünschte, er würde nie enden.

Am nächsten Morgen wurde Nina von kühlen Sonnenstrahlen, die durchs Fenster fielen, geweckt. Sie blinzelte schlaftrunken und für einen Moment war sie verwirrt, wusste nicht, wo sie sich befand. Sie lag in ihrem Bett und ein Arm ruhte um ihrer Taille. Sie blinzelte. Das war ein Traum... aber ein Traum, der sich unfassbar real anfühlte.
Erst dann erinnerte sie sich an das, was geschehen war, an den vergangenen Tag und sie musste lächeln.
Nina stützte sich auf den Unterarm und hauchte Noah einen Kuss auf die Stirn. Ihr Herz hämmerte vor Glück und Freude. Sie fühlte sich ruhig, ruhiger, als es in den vergangenen zwei Jahren je der Fall gewesen sein.
Mit einem zufriedenen Seufzen ließ sie sich zurück ins Kissen sinken und kuschelte sich an Noah. Es war so schrecklich lange her, dass sie so entspannt, so ruhig aufgewacht war.
Nina schloss die Augen und nahm sich vor, diesen Moment für die Ewigkeit in ihrem Herzen aufzubewahren.

Die SchneiderinWo Geschichten leben. Entdecke jetzt