20. Kapitel

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Sie rannte die Treppe hinauf und stolperte durch die Tür in die kleine Kammer. Nina verlor das Gleichgewicht, als der Koffer sie ausspuckte und stieß sich das Knie am Bettpfosten an. Lewin zuckte zusammen und schreckte auf. Eilig schob Nina den Koffer mit dem Fuß unter das Bett und versuchte, ihr Haar zu glätten.
Lewin musterte sie stirnrunzelnd. Gleich würde er sie fragen, gleich würde er sie zur Rede stellen – wie sie es denn wagen konnte, nach all ihren Abmachungen noch den einmal in den Koffer zu steigen...
»Wie lange bist du schon wach?«, fragte er.
Ihr fiel ein Stein vom Herzen. Er hatte nichts von ihren Ausflug in den Koffer erfahren.
»Ähm. Noch nicht so lange«, erwiderte sie fahrig.
Er nickte langsam und ließ sich zurück in die Kissen sinken.
Nina gähnte und setzte sich auf das Bett.
Sie hätte es wissen müssen, dass sie in dieser Nacht keinen Schlaf mehr bekam.
»Keiner hat dich gezwungen, so früh aufzustehen«, sagte er grinsend.
Nina rang sich ein müdes Lächeln ab.
»Ich hab schlecht geschlafen«, log sie. »Bin ständig aufgewacht...«
Sie dachte an all die schlaflosen Nächte, die sie nach Noahs Tod in ihrem Bett gelegen hatte, mit schmerzenden Gliedern und brennenden Augen, weil die Müdigkeit so übermächtig war und der Schlaf einfach nicht über sie kommen wollte.
Er verzog mitleidig das Gesicht, dann richtete er sich auf.
»Ich bin gleich da«, sagte er und verließ das Zimmer.
Sie hörte seine Schritte auf dem Flur und obwohl ihre Augen jeden Moment zufallen wollten, sprang sie auf und verschloss sorgfältig den Koffer.
Sie ließ sich wieder auf das Bett sinken, doch als sie gerade wegdämmerte, kam Lewin zurück, griff nach dem Koffer und zwinkerte ihr zu.
»Kommst du?« wollte er wissen und nickte zu der schmalen Stiege, die nach unten führte.
Sie folgte ihm seufzend.
»Wohin fahren wir?« fragte sie, als sie die Gaststube durchquerten.
Inzwischen war sie so müde, dass ihr schwindelig war und sie sehnte sich beinah nach dem Dröhnen des Motors und der schnurgeraden Straße vor sich.
»Weiter«, antwortete Lewin. »Immer weiter. Es gibt kein Ziel, daran solltest du dich gewöhnen.«
Sie schüttelte den Kopf und sofort machte sich ein unangenehmes Pochen hinter ihrer Stirn bemerkbar. Nina verzog das Gesicht und verzog für einen Moment das Gesicht.
Sie bezahlten die Unterkunft, aßen eine Kleinigkeit und machten sich dann auf die Weiterreise.
Nina versuchte gar nicht erst, sich auf die Straße zu konzentrieren, dem langen, endlosen Band aus grauem Asphalt, sondern schlief sofort ein.
Sie wachte erst wieder auf, als der Wagen ruckartig stoppte. Sie hatte ein watteartiges Gefühl im Kopf, hinter ihrer Stirn hämmerte es.
Ein Blick auf die Uhr verriet, dass gerade einmal zwei Stunden vergangen waren.
Sie hätte nicht so lange bei Noah bleiben sollen...
Verwirrt blickte Nina sich um. Sie standen an einer Tankstelle und Lewin war ausgestiegen und sprach mit dem Tankwart. Gerade lachte er und kehrte dann zurück ins Auto.
Der Tankwart wandte sich dem nächsten Auto zu. Zwei Frauen saßen darin, die eine rauchte eine Zigarette und hatte künstlich rotes Haar.
»Lass uns weiterfahren«, murmelte Nina.
Sie hatte ein ungutes Gefühl, ohne dass sie es begründen konnte. Plötzlich musste sie wieder an Noahs Warnung denken. Lewin war anders, als sie dachte... Er musste sich täuschen. Oder in seiner Realität war es so. Dem Lewin, der hier neben ihr saß, konnte sie vertrauen.
Lewin nickte und drehte den Schlüssel herum. Der Motor sprang an.
Sie fuhren zurück auf die Straße und Nina war schon wieder kurz davor, wegzudämmern, als Lewin sie ansprach. Seine Stimme klang entschieden, herrisch und ließ sie innerlich zusammenschrecken.
»Gib mir den Schlüssel.«
Sein Ton ließ keine Widerrede zu.
Nina blinzelte und massierte sich die Schläfen. Das fiese Pochen wollte einfach nicht nachlassen.
»Welchen Schlüssel?« fragte sie erschöpft.
Lewin fuhr das Auto auf einen Parkplatz am Straßenrand und hielt an.
»Für den Koffer. Du weißt, wovon ich rede.«
Nina biss sich auf die Zunge und schüttelte den Kopf.
»Tut mir leid«, sagte sie, mimte die Ahnungslose und fühlte sich furchtbar dabei. Das war also der Dank für sein Vertrauen.
Doch sie wusste, dass sie den Schlüssel nie wieder bekam und nie wieder mit Noah reden konnte, wenn sie jetzt nachgab.
Er sah sie finster an. »Hör auf damit«, sagte er mit einem drohenden Unterton. »Ich weiß, dass du ihn hast. Du hast ihn genommen, als wir vor einigen Tagen im Zug saßen.«
»Woher weißt du das?« fragte sie erschrocken.
Er lächelte triumphierend.
»Es war die einzig logische Erklärung«, sagte er mit einer Spur Bitterkeit in der Stimme.
Nina schluckte unbehaglich und griff in ihre Manteltasche. Sie umklammerte fest das Metall, es war kühl auf ihrer Haut. Sie konnte den Schlüssel nicht abgeben. Sie konnte nicht loslassen.
»Wie lange weißt du es schon?« fragte sie leise.
»Die Miliz wollte den Schlüssel«
Eine merkwürdige Arroganz, die sie von ihm nicht gewöhnt war, mischte sich plötzlich in sein Lächeln. »Ich sollte ihn abgeben und da ist mir aufgefallen, dass er weg ist.«
Lewin lächelte. »Ich war dir unglaublich dankbar dafür«, sagte er ehrlich. »Auch wenn du mich bestohlen hast.«
Beschämt senkte sie den Blick.
»Ich dachte, ich könne dir vertrauen; ich dachte, du würdest den Koffer nicht benutzen, aber ich habe mich offensichtlich getäuscht.«
Er sagte das vollkommen nüchtern, in seiner Stimme schwang nicht der geringste Vorwurf mit und das verstärkte ihr schlechtes Gewissen.
»Es war dumm von mir, mein Fehler, wenn man es so will. Ich kenne deine Träume und ich weiß, wie stark die Anziehung ist. Nina, gib mir den Schlüssel. Bitte.«
Er streckte die Hand aus.
»Woher willst du wissen, dass ich ihn noch habe?« wollte sie wissen.
Sie schaffte es nicht, ihn anzuschauen; zu groß war die Scham.
»Du bist müde. Du siehst anders aus«, zählte er auf. »Du hast heute Nacht nicht geschlafen, sondern warst in deiner Traumwelt.«
Seine Stimme vibrierte unangenehm in ihrem Kopf. Wie in Zeitlupe zog sie die Hand aus ihrer Jackentasche, die Finger schlossen sich fest um das Metall.
Zitternd legte sie den kleinen silbernen Schlüssel in seine Hand.
»Es tut mir leid«, hauchte sie und sah ihn aus den Augenwinkeln an.
Lewin schloss die Hand um ihre und drückte sie. Ein mitleidiges Lächeln umspielte seine Lippen.
»Schlaf«, flüsterte er und gab ihre Hand wieder frei.
Er startete den Motor und fuhr zurück auf die Straße.
Nina schluckte schwer und schloss die Augen. Sie würde Noah nie wieder sehen, sie hatte sich selbst den Zugang zum Koffer versperrt.
Die Dämmerung zog auf, als sie erwachte. Nina blinzelte verschlafen und blickte sich verwirrt um. Das Auto stand auf einem Feld, die Fahrertür war geöffnet. Jemand hatte ihr eine Decke um die Schultern gelegt. Lewin war nirgendwo zu sehen.
Sie richtete sich auf und stieg aus, streckte die verkrampften Glieder. Lewin war wie vom Erdboden verschluckt.
Der Koffer stand neben dem Auto.
Der Deckel war geöffnet. Der Samt funkelte in der Dunkelheit.

Die SchneiderinWo Geschichten leben. Entdecke jetzt