21. Kapitel

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In den Jackentaschen hatte Nina die Hände zu Fäusten geballt.
Lewin hielt das Duplikat des Koffers in der Hand, als sie die kleine Kneipe betraten. Sie verströmte einen gemütlichen Flair, an der Decke hingen bunte Lampions. Musik erklang aus einem Grammophon.
Nina ließ mit klopfendem Herzen den Blick schweifen. Eine Frau in einem schwarzen Kleid saß an einem Tisch und trank Whiskey, Männer und Frauen unterhielten sich, andere tanzten. Nirgendwo konnte sie Lorena sehen.
Lewin zog sie zu einem Tisch. Fast fühlte es sich an wie ein gewöhnliches Treffen an einem ganz gewöhnlichen Abend in einer Kneipe.
»Wir sind zu früh«, stellte sie fest. Die Anspannung schnürte ihr den Atem ab.
Lewin zuckte mit den Schultern und stellte den Koffer unter einen Stuhl. Er hing seinen Mantel so, dass man ihn nicht mehr sehen konnte.
Nina schloss für einen Moment die Augen und konzentrierte sich auf die Musik. Sie war das einzige, dass sie ein bisschen ruhiger werden ließ.
Hoffnung kam in ihr auf, dass Lorena oder sonst wer nicht aufkreuzen würde und sie einfach einen schönen Abend hatten.
Das Lied war mitreißend, eine fröhliche Jazz-Melodie. Nina musste an den letzten Abend denken, den sie in einer Kneipe verbracht hatte. Das Wissen, am nächsten Tag sterben zu können und den Abend trotzdem nicht genießend.

»Lass uns tanzen!«, sagte sie energisch und griff nach Lewins Arm.
Überrumpelt folgte er ihr zur Tanzfläche.
»Nina...«, begann er und grinste.
»Du überraschst mich.«
Sie begannen zu tanzen. Nina schien die Musik, jeden einzelnen Ton zu spüren, durch Mark und Knochen zu gehen.
Lewin war ein hervorragender Tänzer. Seine Bewegungen passten perfekt zur Musik und er führte sie sicher über die Tanzfläche; sie waren eins.
Nina lächelte und drehte sich, während sie weiter über das Parkett sprang. Der Rock wirbelte ihr um die Knie.
Sie hatte vergessen, wie schön es war, zu tanzen, hatte vergessen, wie schön es war, wenn die Welt nur noch aus Musik und Gefühl bestand.
Als das Lied verstummte, war es, als erwachte sie aus einer Art Trance. Lewin schien es nicht anders zu gehen. Er zog sie dicht an sich heran und sie lächelte zu ihm hinauf.
Nina wollte etwas sagen, doch ihr fehlten die Worte und sie wollte die Harmonie zwischen ihnen nicht zerstören.
Plötzlich zog Lewin sie ruckartig zur Seite.
Nina stolperte. Zwei schwarzgekleidete Personen marschierten durch den Raum ohne Rücksicht auf die Tanzenden zu nehmen. Entschlossen blickten sie sich um, als suchten sie jemanden.
»Scheiße«, flüsterte Lewin neben ihr.
»Die Miliz«, murmelte Nina in dem Moment, als sie Anouk erkannte.
Sie hätte es ahnen können. Sie beide hätten wissen müssen, dass der Verlauf des Abends komplizierter werden würde, als sie es sich erhofft hatten.
Mit der Miliz hatte keiner von ihnen gerechnet.
Anouk und ihr Begleiter nahmen an einem Tisch direkt neben der Tür platz.
Offenbar hatte sie sie zwischen den Menschen wenigstens nicht erkannt.
Nina atmete erleichtert auf. Sie mussten einen neuen, einen echten Plan schmieden.
In diesem Moment sah sie Lorena und Jeremias hereinkommen. Beide ließen sich an der Bar nieder und bestellten einen Drink.
Nina warf Lewin einen panischen Blick zu. Sie sollten sofort verschwinden, solange sie noch konnten.
Ihr Plan war der reine Wahnsinn. Sie waren nur zu zweit und hier waren Vertreter zweier Gruppen, die sie am liebsten tot sehen würden. Lewin überschätzte ihre Chancen und Fähigkeiten gnadenlos.
Nina schluckte schwer.
»Lewin«, flüsterte sie und zupfte an seinem Ärmel. »Das wird nicht funktionieren.«
Er schüttelte entschieden den Kopf.
»Wir ziehen das durch«, sagte er in finsterer Entschlossenheit. »Hier drinnen kann uns niemand etwas antun.«
Nina seufzte, doch er beachtete sie nicht, sondern ließ weiter den Blick schweifen.
Sie versuchte verzweifelt, die Panik, die ihr die Sinne zu vernebeln drohten, niederzukämpfen. Sie musste Lewin vertrauen – er wusste, was er tat.

Vorsichtig warf sie einen Blick zu ihrem Tisch. Der Mantel, unter dem der Koffer versteckt war, lag unberührt über der Stuhllehne.
»Wenn ich nur wüsste, auf welcher Seite Jeremias steht...«, murmelte Lewin nachdenklich und zog eine Zigarette hervor. Nina warf ihm einen missbilligenden Blick zu und er ließ sie wieder in die Brusttasche seines Hemdes gleiten.
»Was sollen wir tun?« fragte sie und bemühte sich, ihre Stimme ruhig klingen zu lassen.
»Wir halten uns an unseren Plan«, antwortete er. »Wir tauschen die Koffer und verschwinden.«
Nina schüttelte heftig mit dem Kopf.
»Das ist Wahnsinn!« rief sie. »Wir haben keine Chance!«
Lewin sah sie ungeduldig an.
»Ich mach das jetzt seit drei Jahren«, erwiderte er heftig. »Wenn ich mir immer gedacht hätte, dass meine Pläne unmöglich sind, wäre ich wahrscheinlich nicht mehr am Leben. Und du lässt mich jetzt verdammt noch mal nicht hängen!«
Für einen Moment sah er ihr fest in die Augen und sie erwiderte seinen Blick, sah seine Entschlossenheit.
Sie gab sich einen Ruck und nickte.
»Also gut.«
Sie seufzte ergeben.
Es war das dümmste, dem sie je zugestimmt hatte, dessen war sie sich sicher.
Lewin griff nach ihrer Hand und zog sie an die Bar, wo Lorena und Jeremias saßen.
»Guten Abend«, sagte er betont freundlich.
Lorena schaute zu ihm auf. Ihre Augen blitzten wütend. Sie nickte ihm zu, Jeremias reagierte überhaupt nicht.
»Man könnte glatt meinen, du wüsstest was du tust«, sagte sie spitz und griff nach dem Glas vor sich.
Ninas Herz klopfte aufgeregt.
»Wir haben den Koffer damals gestohlen, weil eine Katastrophe vermeiden wollten«, sagte Lewin bedacht und blickte sie fest an.
Lorena hob spöttisch die Augenbrauen.
»Die Zeiten ändern sich«, erwiderte sie kühl. »Die Welt steuert auch ohne unsere Hilfe in eine Katastrophe.«
Lewin nickte.
Seine Hand war eiskalt. Nina wusste nicht, wohin sie schauen sollte. Nervös flog ihr Blick umher. Zu Jeremias, der sich eine Zigarette anzündete, zu den Tanzenden, zu Anouk, zu Lorena...
»Nina, verschwinde«, wies Lorena sie giftig an. »Du hast nichts mit unserer Aktion zu tun.«
Lewin ließ ihre Hand los und warf ihr einen bedeutungsschweren Blick zu.
Sie verstand – das war quasi die Einladung, den Plan in die Tat umzusetzen.
Langsam entfernte Nina sich. Lorena durfte keinen Verdacht schöpfen.
Zielstrebig hielt sie auf den Tisch zu, an dem sie den Koffer und die Jacken abgelegt hatten. Nichts anderes nahm sie mehr wahr. Die Musik und die Stimmen schwollen zu einem Rauschen an.
Kurz bevor sie den Tisch erreichte, griff jemand nach ihrem Arm und sie fuhr heftig zusammen.
»Wunderschön, Sie wieder zu sehen«, sagte eine schnarrende Stimme dicht an ihrem Ohr.
Nina atmete tief durch und drehte sich um. Sie blickte in ein paar ungewöhnlich helle Augen. Ein widerlicher Pfefferminzatem strich über ihre Haut. Die Mundwinkel des Mannes zuckten.
»Unser letztes Treffen war nicht sehr erfreulich«, sagte er und ihr Inneres krampfte sich schmerzhaft zusammen. Mit diesem Mann hatte sie um Lewin verhandelt, als die Miliz ihn entführt hatte. Dieser Mann hatte in der Schusterei auf sie geschossen.
Ein Schaudern lief ihr über den Rücken.
»Tanzen Sie doch eine Runde mit mir«, sagte der Mann in Plauderton. So fest, wie er ihren Arm umklammerte, war es keine Aufforderung sondern ein Befehl.
Nina schüttelte den Kopf, doch er zog sie schon zur Tanzfläche, als ein neues Lied zu spielen begann. Verzweifelt blickte Nina sich um. Lewin saß mit dem Rücken zu ihr an der Bar und diskutierte mit Lorena.
Der Mann mit den hellen Augen griff nach ihrer Hand und zog sie zu sich. Die Nähe zu diesem Fremden war unerträglich. Ninas Körper fühlte sich steif an, ihre Gedanken rasten, sie konnte sich nicht konzentrieren; sie musste hier weg.
Die Tanzweise ihres Partners war brutal, er riss sie herum, sodass sie stolperte. Mit aller Kraft versuchte Nina sich aus seinem Griff zu befreien, trat ihm auf die Füßem dich er ließ sich nicht beirren.
Sie sah die Pistole an seinem Gürtel, seine Hand lag unangenehm auf ihrem Rücken. Sein Atem auf ihrer Haut widerte sie an.
Die Musik war nur noch ein hintergründiges Rauschen, ihr rasendes Herz gab den wahren Takt an.
»Am liebsten würde ich euch beide sofort auf der Stelle umbringen«, flüsterte er in ihr Ohr.
Sie schluckte.
»Was wollen Sie von mir?« krächzte sie.
Verzweifelt versuchte sie wieder, ihre Hand zu befreien.
»Dasselbe wie ihr«, antwortete er schnarrend.
Die Hand auf ihrem Rücken glitt ein Stück nach unten.
Wann war endlich dieses verdammte Lied zu Ende? Es wurde Zeit, dass sie ihre Aufgabe erfüllte. Sie wollte nur noch weg von hier.
Um sie herum drehte sich alles. Das Blut rauschte in ihren Ohren.
Endlich verklangen die letzten Töne und bevor er noch etwas sagen konnte, riss sie sich los und stürmte davon zu den Toiletten. Mit bebenden Fingern verschloss sie die Kabine hinter sich und lehnte sich an die Wand. Zitternd atmete sie ein, versuchte sich zu beruhigen.
Lewins Plan war absurd – es war ein Fehler es überhaupt zu versuchen. Jetzt hatte sie die Chance, die Bar unauffällig zu verlassen, in den nächsten Zug zu steigen und Lewin seinem Schicksal zu überlassen.
Langsam öffnete sie wieder die Tür und trat an das Waschbecken. Ihr Spiegelbild zeigte eine gehetzte Frau mit verstörten dunklen Augen. Noch immer ging ihr Atem viel zu schnell.
Nervös fuhr sie sich durch die Haare. Allmählich verschwand das Rauschen, das sich anhörte wie das tosende Meer.
Lass mich hier jetzt verdammt noch mal nicht hängen.
Lewins Worte hallten in ihrem Kopf nach.
Dieses eine Mal noch, dann bring ich dich nach Hause.
Wie ein Echo, das von den Wänden zurückgeworfen wurde und nicht verklung.
Nina straffte die Schultern.
Sie musste ihm helfen – er brauchte sie jetzt.
Und entweder sie hatten Glück oder sie würden scheitern und dabei sterben. Dieser letzte Akt unterschied sich nicht sonderlich von dem, was sie bisher erlebt hatte.
Entschlossen trat sie nach draußen.
Die Fröhlichkeit der Menschen in der Bar, der Lärm die Musik, all das berührte sie nicht.
Eine kalte Entschlossenheit hatte von ihrem Körper Besitz ergriffen, die die Angst vor dem Scheitern und die Angst vor anderen Konsequenzen gänzliche vertrieb.
Sie ging zu dem Tisch, wo noch immer der Koffer unter dem Mantel lag und nahm beides in die Hand. Ruhig, fast lässig ging sie zurück zur Bar und setzte sich neben Jeremias.
Der echte Koffer stand noch immer neben ihm auf dem Boden. Unangerührt.
Jeremias warf ihr einen kurzen Blick zu, doch er sagte nichts.
Es war seltsam, dass ihm noch nicht eine abfällige Bemerkung über die Lippen gekommen war.
Sie stellte den Koffer auf den Boden und warf den Mantel darüber, sodass beide Koffer verdeckt waren.
Beiläufig bestellte Nina einen Whiskey, auch wenn sie nicht die Absicht hatte, etwas zu trinken. Ihre Nerven waren zum Zerreißen gespannt, doch sie hatte das Gefühl, zu wissen, was sie tat. Nicht nur Ausführende zu sein in einem Spiel, das sie nicht verstand.
Lewin warf ihr einen fragenden Blick zu und sie schenkte ihm ein Lächeln – eine Mischung aus Siegessicherheit und Spott.
Lorena musterte sie mit offener Feindseligkeit, doch auch sie sagte nichts, sondern wandte sich wieder an Lewin.
Nina hörte ihnen nicht zu. Aus den Augenwinkeln schaute sie nach unten. Die Koffer standen zwischen ihr und Jeremias, bedeckt mit seinem grauen Mantel. Sie musste nur aufstehen, den Koffer nehmen und verschwinden.
Nina nippte nun doch an ihrem Whiskey, weil sie das Gefühl hatte, er würde ihr einen misstrauischen Seitenblick zuwerfen.
»Kann ich dir vertrauen?«, fragte Lorena in diesem Moment an Lewin gewandt.
Jeremias beugte sich zu ihnen vor.
Nina schaute kurz über die Schulter und sah, wie zwei schwarzgekleidete Leute auf sie zukamen – Anouk und der Mann mit den hellen Augen.
Ihr lief die Zeit davon; sie musste verschwinden.
Sie sprang auf und griff nach dem echten Koffer, stolperte dabei fast über die Fälschung. Entschlossen griff sie nach dem Koffer, schob den Mantel zurecht und wandte sich Richtung Ausgang.
Ihr Herz setzte einen Schlag aus, als Jeremias ebenfalls aufsprang.
»Wir sollten verschwinden«, sagte er zu Lorena.
Nichts über den Koffer. Er schien sie nicht einmal zu bemerken.
Ein irres, triumphierendes Lächeln schlich sich auf Ninas Lippen. Er hatte den Tausch nicht bemerkt.
Nina lief los. Ohne sich umzuschauen, drängte sie sich an den Tanzenden vorbei. Ihre Hand klammerte sich fest um den Griff des Koffers. Sie beschleunigte ihre Schritte, zwang sich, nicht zu rennen.
Plötzlich war Lewin dicht neben ihr. Seine Miene war ernst und so grimmig, dass es ihr unter anderen Umständen Angst gemacht hätte.
Endlich erreichte sie die Tür. Sie traten auf die Straße. Ohne ein Wort zu wechseln, schloss Lewin das Auto auf, sie ließ sich auf den Beifahrersitz fallen und er gab Gas.
Als sie um eine Ecke bogen, fiel die Spannung von ihr, das Gefühl rein mechanisch zu handeln, und sie begann hysterisch zu lachen. Es war wie ein Befreiungsschlag. Sie hatten es geschafft. Ihr Lachen war schrill und unnatürlich, all die Anspannung war mit einem Mal verschwunden. Sie kam sich vor wie eine Wahnsinnige. Lewin warf ihr im Rückspiegel einen irritierten Seitenblick zu, doch auch er lächelte befreit. Wider erwarten hatten sie Glück gehabt und... es knallte.
Glas splitterte. Nina schrie.
Das Auto machte einen Satz nach vorne und kam ins Schlittern, kurz darauf weiteres Donnern in rascher Abfolge.
Nina wusste nicht, was geschah, nur, das etwas verdammt schief ging.
Einen Wimpernschlag später durchzuckte ein brennender Schmerz ihren rechten Oberarm, der sich rasend schnell in ihrem Körper ausbreitete. Sie keuchte und spürte etwas heißes, klebriges auf ihrem Ärmel.
Weitere Schüsse und das widerliche Geräusch, als Metall auf Metall knallte, dazwischen Stimmen, die irgendetwas riefen.
In Ninas Kopf herrschte ein einziges Rauschen und weißer Nebel, der sich auf ihre Augen zu pressen schien. Entfernt hörte sie, wie Lewin fluchte und das Gaspedal durchdrückte. Er sagte etwas, was sie nicht verstand.
Sternchen tanzten vor ihren Augen.
Ihr Körper begann zu zittern, Schweißperlen traten auf ihre Stirn. Sie blinzelte, versuchte die Augen offen zu halten, doch die Straße vor ihr verschwamm und verschwand immer wieder kurz in einem schwarzen Nebel.
Der Schmerz war unerträglich. Ihr Körper stand in Flammen, alles brannte, sie zitterte, sie schwitzte, ihr war eiskalt.
Ein weiterer Schuss, so laut, dass er in ihren Ohren nachhallte und eine schwarze warme Decke breitete sich über sie und alles wurde still.

Die SchneiderinWo Geschichten leben. Entdecke jetzt