19. Kapitel

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Irgendwann verließen sie den Highway und passierten eine kleine Stadt. Nina schreckte aus ihrer Arbeit auf und warf einen Blick auf die Uhr.
Es war schon wieder Nachmittag. Sie waren den ganzen Tag unterwegs gewesen...
Ihr Rücken schmerzte vom langen Sitzen.
»Wo sind wir?« fragte sie Lewin.
»In Colorado«, antwortete er und parkte das Auto am Straßenrand.
"Colorado", wiederholte sie verblüfft und stieg aus. So viele Meilen wie in den letzten Tagen hatte sie ihr ganzes bisheriges Leben nicht zurückgelegt. »Wir sollten den Koffer loswerden«, sagte sie. »So schnell wie möglich«, sagte sie.
»Nur Geduld. Wahrscheinlich werden wir das heute auch. Danach bring ich dich nach Hause oder wohin auch immer du willst«, antwortete er zu ihrer Überraschung.
Sie hatte das Gefühl, ein schweres Gewicht, das auf ihren Schultern lastete, würde plötzlich von ihr abfallen.
»Das ist wundervoll«, erwiderte sie und ein Lächeln breitete sich auf ihrem Gesicht aus.
Er erwiderte das Lächeln, doch in seiner Miene lag ein dunkler Schatten.
Lewin ging auf ein verfallenes Industriegebäude zu.
Für einen kurzen Moment starrte sie ihm nachdenklich nach. Ihr fiel auf, dass er den Koffer im Auto gelassen hatte, dann folgte sie ihm mit einigem Abstand.

Sie trafen Lorena und Jeremias im Keller. Die Wände waren grau, der Putz blätterte ab. Ein alter Tisch und einige bunt zusammengewürfelte Stühle standen herum. Nina fragte sich, wie es möglich war, dass Lorena und Jeremias so schnell von einer Stadt in die nächste kamen und dann auch noch derartige entlegene Orte zu finden.
Sie begegneten ihr mit offener Feindseligkeit.
»Du hast versagt«, zischte Lorena ihr ins Ohr. »Es war deine Aufgabe, Lewin zu befreien, und was machst du? Du nutzt...«
»Ich habe es versucht!« rief Nina aufbrausend.
»Und dabei ist ein Mensch gestorben«, erwiderte sie kühl. »Du hast nichts weiter getan, als zuzuschauen.«
»Ich dachte Lewin wäre tot«, stellte Nina richtig, doch niemand hörte ihr zu.
»Verschwinde«, wies Jeremias sie an, doch Lewin griff nach ihrem Arm.
»Sie bleibt«, mischte er sich ein.
Seine Stimme klang ruhig und bestimmt, als würde er keinen Widerspruch zulassen.
Nina versuchte, ihren Arm zu befreien – sie wollte gehen, was interessierte sie noch das Vorgehen dieser wichtigtuerischen Idioten?
»Wo ist der Koffer?« fragte Lorena herrisch.
»Im Auto«, antwortete Lewin. »Ich wollte erst sicher gehen, dass ihr auch wirklich hier seid.«
Lorena sah ihn prüfend an und tauschte dann einen Blick mit Jeremias.
»Lass uns hochgehen«, sagte sie und stieß die Tür auf.
Sie führte sie eine Treppe hinauf in den ersten Stock. Auch im Treppenhaus bröckelte der Putz von den Wänden, es roch nach Schimmel.
Die Wohnung selbst war winzig klein und unordentlich. Auf einer Kommode in der Garderobe lagen allerhand Briefe und Zettel, dazwischen Zigaretten und Aschenbecher.
Ein Mann saß an einem runden Tisch in der Stube über eine Schreibmaschine gebeugt, doch er arbeitete nicht. Er hatte die Füße auf die Tischplatte gelegt und rauchte.
»Hugo«, sagte Lewin erstaunt. »Hätte nicht gedacht, dass ich dich noch einmal sehe.«
Der Mann lächelte schmal.
Lorena dirigierte Nina entschieden in die Stube, während der Fremde – Hugo - schnell einige Zettel wegräumte.
Nina schaute sich unsicher um. Lewin stand an der Kommode und las etwas, Jeremias stand neben ihm.
»Wenn es nach mir ginge, wärest du im Gefängnis«, flüsterte Lorena und machte einen drohenden Schritt auf Nina zu.
Sie verschränkte die Arme vor der Brust.
»Ich war im Gefängnis und ich weiß, dass ich einen Fehler gemacht habe«, sagte Nina, doch Lorena fiel ihr ins Wort.
»Du hast unsere ganze Mission gefährdet.«
Nina schaute ihr einen Moment lang fest in die Augen. Sie versuchte ihre Wut, ihren Hass den sie gegenüber Lorena verspürte zu unterdrücken, doch er schoss ihr wie Gift durch den Körper.
»Entschuldigung!« rief sie abfällig. »Aber ich habe doch keine Ahnung! Glaubst du, ich wüsste auch nur irgendetwas über eure Mission? Über die Miliz? Glaub mir, ich wüsste wirklich gerne, wofür ich täglich mein Leben riskiere!«
Lorena wollte etwas erwidern, doch Hugo hob eine Hand.
»Lass gut sein«, murmelte er. »Es hat doch keinen Sinn. Wichtig ist, dass der Koffer hier ist.«
Lorena seufzte und nickte schließlich.
»Lewin!« rief sie genervt. »Wir haben nicht ewig Zeit!«
Er betrat die Stube und Nina sah ihm sofort an, dass etwas nicht stimmte. Sein Kiefer war angespannt, beide Hände steckten in den Manteltaschen.
Jeremias stand hinter ihm. Er lehnte sich in den Türrahmen und beobachtete die Situation mit entspannter Miene.
»Was ist los?« fragte Lorena misstrauisch.
Lewin schüttelte den Kopf.
»Nichts«, antwortete er abwinkend.
Lorena kniff die Augen zusammen, auch Hugo hob fragend eine Augenbraue.
»Mir ist nur eben etwas klar geworden«, setzte Lewin hinzu, als er bemerkte, dass seine Erklärung nicht ausreichte.
»Ich muss kurz mit Nina reden.«
»Bitte.«
Lorena machte eine einladende Handbewegung.
Ninas Herz klopfte aufgeregt. Sie trat an Lorena vorbei auf den Flur. Ihr war klar, dass sie auch dort nicht allein miteinander reden konnten – was immer Lewin ihr auch sagen wollte.
Jeremias beobachtete sie.
»Du solltest verschwinden«, begann Lewin kaum hörbar.
Nina hob fragend eine Augenbraue.
»Du muss runter gehen«, sagte er leise und so schnell, dass sie es kaum verstand. Er schaute sie bedeutungsvoll an, fast flehend, fast verzweifelt. Als wolle er eigentlich etwas ganz anderes sagen.
»Warum?« wollte sie wissen. »Ich...«
Sie warf einen Blick zu Jeremias, der nach wie vor zu ihnen schaute. Er musste jedes Wort verstehen, das Lewin sagte...
»Du musst hier weg – so schnell wie möglich«, fuhr er fort.
Ihre Gedanken rasten – was war Lewin klargeworden?
Er beugte sich zu ihr vor.
»Der Koffer darf niemals hier hoch kommen«, hauchte er.
Kurz dachte Nina an den falschen Koffer, der unten im Auto lag. Es würde nichts bringen – Lorena und Jeremias würden sich nicht betrügen lassen.
»Und wenn ich nicht will?« fragte sie herausfordernd, ließ sich auf das Spiel ein. Sie hörte, wie Lorena und Hugo leise miteinander sprachen.
»Ich komme so schnell wie möglich. Warte im Auto«, murmelte er aus dem Mundwinkel und nahm ihre Hand. Sie spürte kühles Metall zwischen ihren Fingern.
»Darum geht es hier nicht«, sagte er laut und nickte kaum sichtbar zur Tür.
Nina holte tief Luft, dann nahm sie all ihren Mut zusammen, verließ die Wohnung und schmiss mit aller Kraft die Tür hinter sich ins Schloss.
Kurz verharrte sie, dann rannte sie die Treppe hinab, hinaus auf die Straße.
Nina wusste nicht, was hier vor sich ging, aber sie wusste, dass Lewin ihr vertraute und das allein bedeutete ihr unglaublich viel. Sie erreichte das Auto und ließ sich auf den Fahrersitz fallen. Der Koffer stand unberührt auf der Rückbank.
Irgendetwas musste geschehen sein, dass Lewins Pläne umgestürzt hatte.
Nervös starrte sie auf das Haus, wartete, dass die Tür endlich aufschwang und er sich ins Auto setzte. Er musste ihr einiges erklären.
Lewin kam nicht.
Nina schaltete das Radio ein, schaltete es wieder aus, klopfte nervös auf das Lenkrad.
Die Tür schwang auf, er stürmte hinaus und warf sich auf den Beifahrersitz.
»Fahr!« rief er und sie ließ den Motor an und gab Gas.
Der Wagen machte einen Satz nach vorn und eine Sekunde später brausten sie über den Asphalt.
Es war lange her, dass Nina Auto gefahren war.
Sie bog um eine Ecke fuhr über eine Kreuzung, übersah dabei eine Ampel und verursachte damit fast einen Unfall.
»Was ist denn passiert?« fragte sie aufgeregt, während sie versuchte, sich auf den Verkehr zu konzentrieren.
Lewins Atem beruhigte sich allmählich.
»Lorena handelt mit der Miliz. Sie wollen den Koffer verkaufen, Geld machen«, antwortete er überschäumend vor Zorn.
Daraufhin übersah Nina noch eine weitere Ampel.
»Was?«, rief sie entsetzt. »Aber das ist...«
»Schau auf die Straße!«
»Das ist doch absurd!« rief sie und bremste scharf ab. »Damit verrät sie sich doch praktisch selbst!«
»Deshalb dürfen sie nicht den Koffer bekommen«, erwiderte Lewin. »Verstehst du, Nina?«
Sie nickte und kniff die Augen zusammen.
In Wahrheit verstand sie gar nichts, doch ihre volle Aufmerksamkeit galt dem Verkehr.
Früher hatte sie es immer bestritten, doch inzwischen sah sie ein, dass sie eine miserable Autofahrerin war.
Sie bog ab und verließ die Stadt. Auf dem Highway war der Verkehr ruhiger, aber nach einer Weile, als Nina nicht mehr das Gefühl hatte, unmittelbar verfolgt zu werden, hielt sie an und stieg aus. Angespannt schaute sie sich um, doch niemand schien ihnen zu folgen.
Lewin atmete erleichtert auf.
»Dein Fahrstil ist recht halsbrecherisch«, sagte er mit einem Lächeln und ließ sich hinter das Steuer sinken. Seine Wut schien verflogen.
Nina zuckte mit den Schultern.
Sie konnte nicht fassen, dass er gerade seine Leute verraten hatte, oder von ihnen verraten wurde, und er jetzt in der Lage war, Witze zu reißen.
Sie fuhren wieder los, Richtung Norden.
»Ich verstehe es nicht«, sagte sie schließlich tonlos.
Lewin drehte das Radio an.
»Ich verstehe Lorena auch nicht«, gab er zu. »Aber Fakt ist, dass wir beide allein da stehen. Wir haben den Koffer und sowohl Lorena, als auch die Miliz sind hinter uns her. Es tut mir leid, dass du da hineingeraten bist.«
Es klang, als würde er es ehrlich bedauern. Es dauerte einen Moment bis die Bedeutung seiner Worte zu ihr durchdrangen.
Verzweifelt schlug sie die Hände vor das Gesicht.
Sie würde nicht nach Hause kommen; sie würde ihr kleines bürgerliches Leben nicht zurückbekommen, auch wenn sie sich nichts sehnlicher wünschte. Natürlich könnte sie Lewin an sein Wort erinnern, dass er sie nach Hause brachte...
Und gleichzeitig hatte sie das Gefühl, Lewin zu verraten, wenn sie ihn jetzt allein ließ. Er hatte Vertrauen bewiesen, in dem er sie zum Auto geschickt hatte... oder sie schlicht benutzt.
Nina seufzte.
»Was machen wir jetzt?« fragte sie besorgt.
Lewin gab Gas. »Wir fahren«, antwortete er langsam. »Irgendwohin.«
Nina ließ sich tiefer in ihren Sitz sinken. Ab und an ragte ein Baum wie ein totes Gerippe am Straßenrand auf. Die Radioverbindung brach.
»Lass uns zur Küste fahren und den Koffer ins Meer werfen, wenn du ihn schon nicht in der Wüste vergraben willst«, schlug sie vor. »Wenn wir der Welt klar machen, dass der Koffer nicht mehr existiert, haben wir unsere Ruhe.«
»Ich habe meiner Frau versprochen, den Koffer nur für gute Zwecke einzusetzen«, erwiderte Lewin ruhig.
Konzentriert blickte er auf die Straße.
»Es gibt keine guten Zwecke mehr. Was ist schlecht daran, ihn zu vernichten?«, gab Nina trocken zurück.
Lewin zuckte nur mit den Schultern. »Ich glaube nicht, dass es in ihrem Sinne gewesen wäre, den Koffer zu zerstören«, antwortete er. »Du musst wissen, bevor ich den Koffer an mich genommen habe, war das ihre Aufgabe.«
Nina sah ihn erstaunt an. Es war die Antwort, nach der sie sich schon so lange sehnte – der Grund, warum sich Lewin sich das alles hier antat.
Er sprach nüchtern, als erzählte er von einem fremden Leben, von fremden Erinnerungen, von etwas bedeutungslosem.
»Wir waren beide Teil der Miliz«, fuhr er gedankenverloren fort. »Bis wir herausgefunden haben, dass die Miliz mit dem Koffer das große Geld machen wollen. Zusammen mit Lorena, Jeremias und Hugo haben wir uns gegen sie verschworen, den Koffer gestohlen.«
Er zuckte mit den Schultern. Nina wagte es nicht zu atmen.
»Es war richtig«, sagte er nach einer Weile überzeugt.
Unbeholfen legte sie ihm die Hand auf den Arm.
»Danke«, brachte sie hervor.
Lewin lachte freudlos auf und sah sie an. Er setzte an etwas zu sagen, doch in diesem Moment setzte das Radio wieder ein und spielte ein Melodie, die Nina schon sooft gehört hatte, dass es fast grotesk war, sie hier an diesem gottverlassen Ort zu hören.
Lewin unterbrach sich und schwieg.
Langsam zog die Dämmerung auf und es wurde dunkel. Nur die Autoscheinwerfer erhellten die Straße wie zwei strahlende Augen und tasteten sich vorwärts.
»Wann glaubst du, werden sie uns finden?« fragte Nina irgendwann.
Sie wusste, dass eine ewige Flucht unmöglich war. Früher oder später würde die ein oder andere Gruppe sie finden.
Wenn sie es genau betrachtete, war es lebensmüde von Lewin, seine einzigen Verbündeten zu verraten.
»Ich weiß nicht«, sagte er und lächelte. »Um ehrlich zu sein, denke ich über so etwas nicht nach. Ich mach das nun schon seit drei Jahren und wenn ich immer überlegt hätte, wann sie mich finden, wäre ich vermutlich längst tot.«
Als die Nacht über sie hereinbrach, machte Lewin immer noch keine Anstalten, in einer der Städte, an denen sie von Zeit zu Zeit vorbei kamen, Halt zu machen.
Nina schloss die Augen; sie war müde und dachte an die zurückliegenden Tage. So viel hatte sie in ihrem ganzen Leben noch nie erlebt.
Mehrfach war sie in Lebensgefahr gewesen... Und sie hatte Noah wiedergesehen. Nach einer Ewigkeit und dem Wissen, dass es unmöglich war.
In Wahrheit gab es keine Grenzen... Sie hatte Noah versprochen bei ihm zu bleiben, wenn Lewin befreit war. Auch wenn sie sich bei ihrer letzten Begegnung gestritten hatten, war das keine Rechtfertigung, das Versprechen nicht einzuhalten...
Sie öffnete wieder die Augen und drehte sich um. Der Koffer lag auf der Rückbank, unberührt, unscheinbar. Jemand der ins Auto blickte, sah zwei junge Leute – ein Paar vielleicht – dass in einen kurzen Urlaub fuhr.
Nina tastete nach ihrer Jackentasche. Noch immer war darin der Schlüssel für das Kofferschloss enthalten.
»Was ist?« fragte Lewin ohne sie anzuschauen.
Er klang müde, seine Stimme war heiser.
»Nichts«, antwortete Nina. In der Ferne sah sie zwei Scheinwerfer eines weiteren Fahrzeuges. Es erleichterte sie, dass sie nicht die einzigen auf der Straße waren.
»Sicher?« hakte Lewin nach.
Nina nickte. »Wir sollten eine Pause machen«, sagte sie entschlossen. »Du siehst müde aus und außerdem habe ich Hunger.«
Er lachte.
Und sie wollte eine Möglichkeit, mit Noah in Kontakt zu treten. Sie musste ihm erklären, dass sie nicht bei ihm bleiben konnte – solange Lewin sie brauchte. Das war sie ihm schuldig.
Sie würde ihr Versprechen nicht brechen. Niemals, zumindest nicht Noah gegenüber.
Sie warf Lewin einen Seitenblick zu. Sie würde Noah niemals verraten, nicht an Lewin, nicht an irgendjemand anderem. Sie musste an den Morgen an die vergangene Nacht denken – was war nur in sie gefahren, als sie Lewin einfach geküsst hatte?
Sie musterte ihn erneut – das Haar stand ihm wild vom Kopf ab und Nina spürte wieder, wie es sich zwischen ihren Fingern anfühlte. Weich und... sie schüttelte den Kopf. Sie durfte daran nicht denken. Nicht, wenn sie ihr Versprechen gegenüber Noah halten wollte.
Stur blickte sie auf ihre Knie und verschränkte die Finger miteinander, damit sie sich nicht selbstständig machten und versuchen würden, sein Haar in Ordnung zu bringen.
Eine halbe Stunde später hielt er in ein Dorf, eine Siedlung. Es bestand nur aus etwa einem Dutzend Häuser und das Leben schien sich tagsüber nur um den Marktplatz herum abzuspielen. Jetzt lag der Ort wie ausgestorben da, es brannten nicht einmal alle Straßenlaternen.
Lewin parkte das Auto geschickt am Straßenrand und Nina riss die Tür auf und atmete die kalte Nachtluft ein.
Lewin schwankte leicht, als nach draußen trat. Im Schein einer Straßenlaterne konnte sie sehen, wie blass er war.
Zögernd griff Nina nach dem Koffer. Sie spürte den wachsamen Blick Lewins, doch er sagte nichts. Gemeinsam blickten sie sich um und traten schließlich in den einzigen Laden, in dem noch Licht brannte. Es war eine Kneipe, ein dunkler Schuppen, in dem eine Handvoll Leute saßen, die Skat spielten oder mit gedämpften Stimmen redeten.
Eine Wirtin stand gelangweilt hinter der Theke und polierte Gläser, die bereits im schummrigen Licht glänzten.
Niemand nahm Notiz von ihnen.
Lewin dirigierte sie zur Bar. Die Hocker waren alt, das Leder mit denen sie bezogen waren, zerschlissen und brüchig.
»Was darf's sein?« fragte die Wirtin.
Ihr graues Haar war streng im Nacken zusammengesteckt und um ihren Mund lag ein mürrischer Zug.
Sie sah Lewin und Nina scharf an.
»Etwas zu Essen«, antwortete Nina.
»Ein Bett«, sagte Lewin.
Nina verkniff sich ein triumphierendes Lächeln.
Es war falsch, seine Müdigkeit derart auszunutzen, zumal sie selbst todmüde war, doch sie sah keine andere Chance, um mit Noah in Kontakt zu treten. Sie musste ihn einfach sehen, ihre Situation erklären...
Die Frau brummte etwas unverständliches, wischte sich die Hände an der Schürze ab und verschwand in einem Hinterzimmer.
Lewin und Nina tauschten einen ratlosen Blick. Im fahlen Schein erschien seine Haut fast durchsichtig, als würden ihm jeden Moment die Kräfte versagen.
Kurz darauf kam sie zurück.
»Sie haben Glück, ein Zimmer ist noch frei.«
Sie sprach, als würde sie ständig Gäste von Außerhalb haben.
Nina lächelte ihr zu.
»Vielen Dank«, sagte sie.
Lewin stützte den Kopf in die Arme und gähnte mehrfach. Sie legte ihm vorsichtig eine Hand auf den Arm. Sie wollte sagen, dass er schlafen sollte, doch sie hatte Angst, seinen Misstrauen zu erregen. Um nichts in der Welt durfte er den Koffer so verstauen, dass sie nicht mehr heran kam.
»Sie scheinen eine lange Fahrt gehabt zu haben«, stellte sie überflüssigerweise fest, als sie Nina einen Teller mit Brot und Spiegelei hinstellte.
Sie bemerkte, wie die beiden Frauen auf der anderen Seite des Tresens ihr neugierige Blicke zuwarfen.
»Kann man wohl sagen«, erwiderte sie gedämpft. »Wir sind auf der Durchreise.«
»Wo geht es hin?« wollte die Wirtin wissen.
Nina warf Lewin einen kurzen Blick zu. Er schien nur halb bei der Sache zu sein und stocherte halbherzig auf dem Teller herum.
»Nach Kanada«, log sie schließlich.
Die Frau nickte und sah Nina dabei zu, wie sie begann zu essen.
Sie versuchte sich ihre plötzliche Nervosität nicht anmerken zu lassen. Sie konnte den Blick der beiden Frauen an der Bar auf sich spüren, ihre gedämpften Stimmen drangen leise zu ihr vor.
Lewin schien gar nicht zu bemerken, dass Nina den Koffer trug. Er wankte vor ihr die Treppe hinauf und ließ sich auf das Bett sinken. Ohne etwas zu sagen, schloss er die Augen.
»Gute Nacht«, flüsterte sie und blickte ihn einen Moment an, dann stellte sie den Koffer auf den Fußboden.
Das Zimmer war winzig. Nur ein Bett stand darin, sonst konnte man sich kaum bewegen. Wenn irgendetwas schief ging, wenn Lewin auch nur aufwachte, würde er ihr Verschwinden sofort bemerken.
Was sie vorhatte, war verantwortungslos und sie nutzte seinen Schlaf aus und missbrauchte sein Vertrauen.
Sie konnte es nicht tun. Nicht heute, nicht in dieser Nacht.
Nina ließ sich auf die andere Seite des Bettes sinken, mit dem Rücken zu Lewin. Langsam suchte sie in ihren Manteltaschen nach dem kleinen silbernen Schlüssel. Schließlich fand sie ihn, doch sie rührte sich nicht.
Sie hörte Lewins ruhigen Atem neben sich.
Sie könnte diese Nacht nutzen, ruhig zu schlafen, so wie sie es in der letzten Nacht getan hatte. Lange nicht mehr hatte sie sich so ruhig gefühlt.
Doch darum ging es nicht. Sie musste diese Chance nutzen – vielleicht verloren sie morgen den Koffer, vielleicht würden sie ihn zerstören.
Ein einziges Mal musste sie noch mit Noah reden. Nicht lange... nur um zu erklären, um Abschied zu nehmen...
Sie schloss den Koffer auf, zwang sich, Lewin keinen weiteren Blick zuzuwerfen, denn sonst würde sie ihm nie wieder in die Augen blicken können.

Das Licht im Treppenhaus war düsterer als sie es in Erinnerung hatte. Es war helllichter Tag als sie auf die Straße trat. In der Schneiderei war wie immer bei ihren Besuchen keine Menschenseele außer Noah.
Er saß an dem kleinen Tisch und trank Tee. Als er Nina hineinkommen hörte, schaute er auf. In seiner Miene spiegelte sich irgendwas zwischen Erstaunen und Verschlossenheit.
»Hallo«, sagte sie ein wenig reserviert.
Sie wusste nicht, wie er reagieren würde.
»Nina«, erwiderte er ruhig.
Für einen Moment sahen sie sich einfach an, dann begann sie gleichzeitig: »Es tut mir leid, ich wollte nicht...«
Nina verstummte und musste kichern.
»Ich wollte dich nicht verletzen«, sagte Noah versöhnlich. »Natürlich glaub ich nicht, dass...«
Sie wusste, was er sagen wollte.
Sie erinnerte sich an ihre Gedanken, die ihr durch den Kopf gegangen waren, als sie in der vergangenen Nacht neben ihm lag, sie dachte daran, dass sie streng genommen schon wieder ein Bett teilten. Das schlechte Gewissen stieg in ihr auf und obwohl sie reden wollte, brachte sie kein Wort hervor.
»Hast du es geschafft?« wollte Noah wissen. »Konntest du deinem Freund helfen?«
Er klang ehrlich interessiert und deshalb antwortete sie ihm aufrichtig.
»Ja, aber ich bin noch nicht fertig«, sagte sie vorsichtig. »Es gab einen Zwischenfall – ich kann ihn nicht allein lassen.«
Sie versuchte, seinem durchdringenden Blick standzuhalten.
»Aber ich wollte dich sehen«, fügte sie leise hinzu.
Und das war untertrieben. Sie wollte ihn mit allen Sinnen spüren, sie wollte mit ihm reden bis der Morgen kam und sie wollte, dass diese Zeit nicht verging.
Er lächelte und stand auf.
»Ich bewundere deine Ausdauer«, sagte er leise und griff nach ihrer Hand. »Und deine Loyalität, dein Pflichtbewusstsein...«
Er fuhr ihr mit den Fingern durch die Locken und lächelte auf sie hinab.
Nina schloss die Augen.
»Bist du mir nicht böse?« fragte sie ungläubig.
Noahs Lächeln erstarb. »Ich kenne Lewin nicht«, gab er zu. »Aber ich habe einige Nachforschungen angestellt über diesen Mann, der sein Leben nicht im Griff hat...«
Nina runzelte die Stirn. »Und?«, fragte sie.
Noah rang mit sich, dann schüttelte er den Kopf.
»Ich bin mir nicht sicher«, sagte er nervös. »Er ist anders als du glaubst, Nina.«
»Was redest du da?«, fragte sie verständnislos. Sie spürte eine merkwürdige, unerklärliche Angst in sich aufsteigen, wie flüssiges Eis, das ihren Körper langsam füllte.
Noah biss sich auf die Lippen. »Ich glaube, das musst du selbst herausfinden. Vielleicht ist er in deiner Welt anders, vielleicht...«
Er zuckte hilflos mit den Schultern.
»Ich glaube nicht, dass ich ihn mögen würde«, fügte er hinzu.
Für einen Moment sah sie ihn an.
»Das ist unfair«, widersprach Nina dann. Es war wie ein Strohhalm, an den sie sich klammerte.
»Du kennst ihn gar nicht.«
Noah zuckte mit den Schultern.
»Ich weiß. Kann ich es ändern?«
Einen Moment schwiegen sie.
Nina wurde aus seinen Worten nicht schlau, doch der Gedanke, dass Lewin anders war, als sie ihn kannte, fühlte sich wie eine Bedrohung an. Sie vertraute ihm... er war der einzige, der sie wirklich ernst nahm. Sie wollte das nicht wieder verlieren.
Seufzend schlang sie die Arme um Noahs Hals, als könne er sie schützen und legte die Stirn an seine.
»Ich verspreche dir, Ich werde irgendwann kommen...«
Er lächelte und verhinderte, dass sie weitersprach, in dem er sie küsste.
»Versprich nichts, was du nicht halten kannst«, murmelte er mit einem sanften Lächeln. Nina runzelte die Stirn und wich ein Stück zurück.
»Was meinst du?« fragte sie misstrauisch.
»Du lebst in deiner Wirklichkeit. Und wenn du dort gebraucht wirst, ist das okay«, erklärte er. »Ich warte auf dich.«
Nina schloss die Augen und atmete tief durch.
»Danke«, sagte sie leise gegen seine Lippen.
Sie blieb länger, als sie es geplant hatte. Mit Noah verstrichen die Stunden doppelt so schnell als sonst, und in dieser Gegenwelt war dies sowieso der Fall.
Nina zog irgendwann ihre Taschenuhr hervor. In ihrer Welt war es bereits sechs Uhr morgens; sie musste zurück, wenn Lewin keinen Verdacht schöpfen sollte. Verdammt, sicher war er längst wach...
»Ich muss gehen«, sagte sie leise. »Tut mir leid.«
Noah lächelte. Ein Schatten glitt über sein Gesicht.
»Komm bald wieder«, rief er ihr nach. »Und nimm dich vor Lewin in Acht. Er ist anders, als du denkst.«
Die Leichtigkeit fiel von ihr.
Noah konnte gar nicht wissen, wer Lewin war. Und sie konnte sich in einem Menschen nicht so derart täuschen.

Die SchneiderinWo Geschichten leben. Entdecke jetzt