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Ich rannte einfach fort, als könnte ich meinen Gedanken so entfliehen, immer weiter bis ich auf der Straße mit den rot markierten Fahrradwegen war. Doch im Endeffekt brachte es gar nichts. Die Gedanken an meine Lehrerin kamen mit.
Neun Wochen Ferien lagen nun vor mir. Neun Wochen ohne sie. Ich wusste nicht, wie ich das aushalten sollte.

Jeder Schritt schmerzte ein bisschen mehr und die Tränen flossen mir unaufhaltsam die Wangen hinunter. Weit und breit war zu meinem Glück kein Mensch zu sehen. So lief ich einfach weiter und ließ die Tränen leise auf mein T-Shirt tropfen.

Wieder einmal sah ich sie vor meinem inneren Auge, die schönste Frau der Welt, die mir durch eine schwere, beinahe hoffnungslose Phase half und selbst dann noch an mich glaubte, als ich kurz vorm Aufgeben war.
Wegen ihr hatte ich es geschafft. Sie hatte es geschafft, mich stark zu machen. Mit ihrer Hilfe habe ich die Ausbildung bestanden und durch sie habe ich gelernt, mich selbst zu akzeptieren. Durch ihre Hilfe, ihre netten Worte, ihre Blicke, ihr Lächeln, ihre Nähe, insgesamt durch ihre wertschätzende Art. Ich liebe sie. Ich habe sie von Anfang an geliebt, ohne in sie verliebt zu sein.
Schon wenige Tage ohne Kontakt zu ihr waren kaum auszuhalten und nun lagen ganze neun Wochen zwischen dem letztem Sehen und dem Wiedersehen und dann würde sie nicht einmal mehr meine Lehrerin sein und es war ungewiss, ob sie mich jemals wieder so anschauen würde, wie ich es immer liebte.

Schritt für Schritt ging ich weiter über den rot markierten Bereich der Straße. Ich war aus der Puste vom Rennen und vom Weinen. In der Ferne waren hinter der Kurve schon die großen Steine vor dem Eingang zum Naturpark Bargerveen zu sehen. Nun hatte ich ein Ziel vor Augen.

Im Naturpark erhoffte ich mir Ablenkung durch die schöne Natur. So oft war ich bei Stress und Kummer schon dort gewesen und die Wirkung war fantastisch. Hinterher ging es mir stets besser, mein Kopf war wieder frei und ich hatte Platz für neue Gedanken.
Zudem machte die wunderschöne Umgebung mich unglaublich kreativ. Ich hatte mich schon unzählige Male mit Block und Stiften am Wegrand auf eine alte Bank gesetzt und Gedichte, Geschichten oder Lieder geschrieben. Die idyllischen Landschaften inspirierten mich, das Summen und Brummen der Bienchen und Libellen beruhigte mich. Das Quaken der Frösche ließ mich entspannen und die raschelnden Mäuse in Stroh und Heide quickten den Fluss meiner Gedanken auf und machten mich wieder fröhlich.

So wollte ich auch heute die Natur genießen, um auf andere Gedanken zu kommen und ich erhöhte mein Tempo noch einmal bis ich endlich oben war und das Moor und die Birken riechen konnte. Wildgänse badeten genüsslich im Sumpf, hier und dort schlich sich eine Kreuzotter durch die lila leuchtende Heide. Frösche quakten laut, Grillen zirpten, Mäuse raschelten und Bienen und Libellen summten.
Die Sonne stand hoch am Himmelszelt und ließ das tiefblaue Moorgewässer schimmern und leuchten. Es waren kaum Wolken zu sehen. Die Natur entfachte ihre volle Schönheit und ich genoss die unendliche Ruhe und versuchte zu entspannen.

„Sie können jederzeit zu mir kommen, wenn etwas sein sollte", hörte ich die schönste Stimme der Welt in meinem Inneren abspielen. Daraufhin folgte die Stimme meiner Schulleiterin: „Vielleicht ist es auch gut, eine Vertrauensperson zu haben, die man nicht im Unterricht hat."
Wieder sah ich das Bild meiner Liebsten vor mir.
Heute war sie besonders schön. Sie trug einen hellen beigen Hosenanzug und hatte ihre Haare hochgesteckt. Ihr Make-up passte perfekt und in Kombination mit dem liebevollen Lächeln auf ihren Lippen und ihren strahlenden sommerhimmelblauen Augen war sie schöner denn je.

Ich ging ein paar Schritte weiter und versuchte mich auf die blühenden Wildblumen zu konzentrieren, doch kein Anblick war auch nur annähernd so schön wie sie, wie Lisa Prins, meine nun ehemalige Klassenlehrerin.
Erneut füllten meine Augen sich mit Tränen, die gleich darauf an meinen Wangen hinunter liefen. Mein T-Shirt war schon nass, so beugte ich mich vor, um die Tränen auf den Weg tropfen zu lassen.

Jeder Abschied schmerzte, das wusste ich zu gut. Doch obwohl dieser Abschied eigentlich noch nicht einmal für immer sein sollte, tat er mir mehr weh als jeder Abschied zuvor. Solche Schmerzen hatte ich noch nie erlebt. Selbst der Naturpark konnte meine Gedanken nicht mehr fangen, weil diese Lehrerin einfach noch so viel schöner war. Sie schlug die Natur mit ihren eigenen Waffen, denn ihr Lächeln war natürlich, authentisch und einfach wunderschön.
Diese Frau machte mich so wahnsinnig, schon von Anfang an hatte sie mich fasziniert. Wie konnte ein Mensch nur so perfekt sein?

Allmählich liefen die Tränen langsamer und ich fühlte mich erschöpft. Weil noch immer kein Mensch in Sicht war, setzte ich mich einfach in den Sand, um mich etwas auszuruhen. Noch einmal holte ich mir die Erinnerung an meine Lehrerin vor mein inneres Auge.
Wie sie in der Kirche saß, fromm und niedlich wie ein echter Engel und hingebungsvoll die Lieder mitsang. Wie sie voller Anmut auf ihren hellen beigen Pumps aus ihrer Bank heraus kletterte, um nach vorne zum Altar zu laufen. Wie sie ehrlich und aufrichtig ihre Danksagung an das vergangene Schuljahr sprach und genüsslich ihre Augen schloss, als ich auf ihrem Keyboard das Präludium spielte.
Wie sie hinterher zu mir kam, ihre warme, weiche Hand auf meine rechte Schulter legte und mir liebevoll und begeistert zuflüsterte, dass ich schön gespielt hätte. Wie sie zurück in die Bank ging, ihr Kirchenbuch nahm und ich von einer anderen Lehrerin dazu aufgefordert wurde, zu ihr zu kommen, um mit ihr aus einem Buch zu singen. Als ich feststellte, dass es sich um das Lied handelte, vor dem ich mich am meisten gefürchtet hatte, den irischen Segensgruß. Wie ich dann vor Frau Prins stand und ihren wunderschönen Gesang hören konnte, was mich zum ersten Mal an diesem Tag völlig um den Verstand brachte.

Bis wir uns endlich wiedersehen, sollte noch so viel Zeit vergehen.
Wie sollte ich diese neun Wochen nur überleben, wenn der erste Tag mir schon drei Stunden nach dem letzten Sehen die letzten Kräfte raubte?

BargerveenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt