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Nach dem irischen Segensgruß sang Lisa „In einem kleinen Apfel". Es klang wieder einmal wunderschön, genau wie damals am Anfang des Schuljahres, als Lisa uns einen beispielhaften Morgenimpuls zum Thema „Apfel" vorstellte.
Ich konnte nicht mehr aufhören zu grinsen. Meine Gefühle überwältigten mich. Schon in dieser Unterrichtseinheit, als Lisa ihren Morgenimpuls durchführte, war ich total fasziniert von ihr und ihr Gesang brachte mich schon damals aus der Fassung.
„Ich wünschte, ich könnte singen", murmelte sie hinterher. Mein Déjà-vu hätte nicht noch größer werden können. Wie konnte diese bezaubende Frau bloß denken, sie könnte nicht singen?

Ich nahm all meinen Mut zusammen, legte meine freie Hand auf ihren Oberarm und sagte ihren Namen. Sofort blieb Lisa stehen und sah mir überrascht ins Gesicht. „Ja?"
Meine Beine fühlten sich an wie Wackelpudding. Es war mir schon immer schwergefallen, Komplimente auszusprechen. Schriftlich war es so viel einfacher. Außerdem war ich eher so ein Mensch, der heimlich von den Talenten anderer schwärmte. Doch nun gab es kein Zurück mehr.

„Ich äh... Ich wollte dir nur sagen, dass.... äh..." stammelte ich und stockte. Lisa lächelte verständnisvoll und sah mich mit diesem wundervollen Blick an, der mir in der Schule schon immer das Gefühl gab, dass alles gut wäre.
Ihre Augen strahlten und kamen mir vor wie ein Spiegel ihrer wundervollen Seele. Kein Mensch hatte es je zuvor geschafft, mit nur einem Blick meine ganze Denkweise zu verändern und mich unglaublich stark zu machen. Manchmal glaubte ich sogar, mit Lisa auf einer ganz anderen Ebene zu kommunizieren, denn wenn ich im Praktikum schwerwiegende Probleme hatte und nicht darüber sprechen konnte, wusste Lisa -Frau Prins- trotzdem immer genau, was in mir vorging und sagte stets im richtigen Moment das Richtige.

„Keine Angst, Nina", flüsterte sie. Ich atmete noch einmal ganz tief durch und fing dann einfach an zu sprechen: „Lisa, du singst wunderschön. Du hast eine tolle Stimme, du triffst jeden Ton und hast das Talent einer ausgezeichneten Sopranistin. Das hätte ich dir damals in der Schule am liebsten schon gesagt, aber da ging es ja nicht. Dafür jetzt. Du kannst singen, du verzauberst mich sogar mit deinem Gesang. Selbst Kinderlieder könnte ich mir von dir stundenlang anhören und ich würde so gerne einmal hören, wie du Gitarre spielst..."

Lisa sah mich noch immer durchdringlich an, ihr Lächeln wurde immer größer. Sie schaffte es nicht mehr, ihre Lippen zusammenzukneifen und zeigte ihre weißen Zähne. Kleine süße Lachfältchen umspielten ihre Augen und ihre Wangen erröteten leicht.
„Das meine ich wirklich ernst", versicherte ich ihr.
Lisa schüttelte ihren Kopf, erst ganz leicht und dann etwas stärker. Sie begann zu lachen und sagte dann: „Danke, Nina. Das hat mir noch niemand gesagt. Ich weiß gar nicht, was ich antworten soll, aber deine Worte bedeuten mir echt viel."
Bei einem genaueren Blick in ihre Augen konnte ich erkennen, dass sie versuchte, Tränen der Rührung zurückzuhalten. Dieser Anblick war so süß und mir wurde klar, dass ich genau das Richtige getan hatte. „Ach Lisa", murmelte ich und nahm sie glücklich in den Arm.

Lisa legte ihre Stirn auf meine Schulter und flüsterte noch einmal: „Danke, Nina. Wirklich." Auch ich war nun den Tränen nahe und versuchte diese ebenfalls aufzuhalten. Was hätte Lisa sonst nur von mir gedacht?

Diese Umarmung hielten wir noch eine Weile, bis eine Froschfamilie fröhlich quarkend an uns vorbei sprang. „Oh", piepste Lisa und löste sich aus der Umarmung, „Wir sind hier nicht mehr alleine." Daraufhin lachte sie wieder und ich war unglaublich zufrieden mit der Welt. So sollte es bleiben.

Sobald die Frösche in der Heide verschwunden waren, umgab uns eine friedliche Stille. Man hörte nur noch leise die Töne der Natur.
Plötzlich legte Lisa ihren Arm um mich und fragte: „Wie wäre es, wenn du mal wieder zu mir nach Hause kommst und wir gemeinsam ein wenig singen und Gitarre spielen? Meine Kinder würden sich sehr freuen. Oder was meinst du?"
Ohne groß zu überlegen antwortete ich: „Das ist eine großartige Idee!"

Eine gefühlte Ewigkeit sahen wir uns einfach nur lächelnd ins Gesicht und senkten daraufhin gleichzeitig unseren Blick und kicherten leicht verunsichert. Wie von selbst gingen wir dann weiter, Lisa nahm wieder meine Hand und brachte meine Gefühle bloß noch mehr durcheinander. Zu gerne hätte gewusst, was gerade in ihr vorging. Sie kam mir geheimnisvoller vor denn je. Sie wirkte verträumt, in Gedanken woanders und doch so tiefenentspannt und glücklich.

Am Ende des Pfades stand ein Weidezaun. Dahinter waren Schafe, die uns laut begrüßten. „Oh, es geht gar nicht weiter", stellte ich fest. Lisa lachte erneut so herzlich wie immer. „Dann müssen wir wohl umdrehen, was?", fragte sie mit einem zuckersüßen Grinsen im Gesicht. „Sieht so aus", entgegnete ich und wir beide lachten über unseren kleinen Exkurs.
„Jetzt ergibt es auch einen Sinn, weshalb der Pfad nicht ausgeschildert war", dachte laut, was Lisa anscheinend sehr belustigend fand, so wie sie lachte.
„Lass uns noch ein bisschen hier bleiben", schlug Lisa vor. Erst jetzt fiel mir auf, dass sie eine kleine Tasche dabei hatte. Diese öffnete Lisa und holte eine Tüte Gummibärchen und zwei 0,2l Flaschen Wasser hervor. „Magst du?", fragte sie und deutete auf ihr Proviant. Ich nickte.
Lächelnd reichte sie mir eine Wasserflasche und öffnete die Tüte mit den Gummibärchen. „Ich habe auch ein Brot mit", sagte Lisa. Ich aber winkte lächelnd ab. „Das ist deins, Lisa. Das darfst du auch gerne essen."

Wir setzten uns in den Schatten einer Birkenreihe und tranken erstmal etwas bevor wir gleichzeitig unsere Hände in die Gummibärchentüte stecken wollten und einen Lachanfall bekamen. „Es ist so schön mit dir", wisperte Lisa und mein Herz schlug mir vom Kopf bis zu den Füßen.

BargerveenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt