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„Wie gerne hätte ich jetzt meine Gitarre hier gehabt", murmelte Lisa und wirkte dabei ziemlich verträumt, „Dann könnten wir einfach hier sitzen bleiben und inmitten der schönsten Natur die fröhlichsten Lieder singen."
Ich nickte. „Mhm."
Gleich darauf begann ich zu träumen, wie wunderschön es wäre, wenn Lisa und ich bis zum Sonnenuntergang in Gitarrenbegleitung singen und einfach den Rest der Welt ausblenden könnten. Wenn es in dem Moment nur uns und die Natur gäbe und die Zeit für einen Moment stehen bliebe.

Aber genau das tat sie auch jetzt. Es war wie eine kleine Ewigkeit, die einfach nur uns gehörte, nur Lisa und mir. Unsere Handys hatten keinen Empfang. Doch selbst wenn wir Empfang gehabt hätten, hätten wir uns vermutlich gar nicht ums Handy gekümmert.

Im Schatten der Birken war es längst nicht so warm wie in der prallen Sonne. Es tat gut, eine kleine Pause eingelegt zu haben. Kleine Sonnenstrahlen lauerten hier und da zwischen den kleinen Blättern hervor, wenn diese sich in den warmen Brisen leicht hin und her bewegten.
Ich legte meinen Kopf in den Nacken und sah zu den Birken hinauf. Auf einigen Ästen saßen kleine Singvögel, die liebevoll ihre Lieder zwitscherten.  Nun war wieder so ein Moment, in dem ich dachte, dass das Leben wunderbar wäre und Zweifel gab es dabei keine. Denn das Wichtigste war, dass Lisa bei mir war. Ich bräuchte nur zur Seite zu schauen und dann würde ich sie sehen.
Niemals hätte ich gedacht, dass es diese Situation außerhalb der Schule jemals wieder geben könnte.

Wieder einmal bildete ich mir ein, mit den Vögelchen per Telepathie kommunizieren zu können. Ich bedankte mich bei ihnen für den wunderschönen Gesang und war sehr glücklich mit dem Gedanken, dass die Vögel sich extra für Lisa so große Mühe gaben.

Plötzlich rüttelte mich etwas aus meinen Gedanken. „Nina, nicht einschlafen", kicherte Lisa. Mein Puls stieg von einem Moment auf den anderen auf 180 und meine Gefühle spielten absolut verrückt.
Da war sie, in der Hocke neben mir, ihre Arme um mich gelegt, und hatte das süßeste Lächeln auf den Lippen, das ich je gesehen habe. Ihre himmelblauen Augen funkelten und strahlten.
Ich war wie paralysiert und starrte sie überwältigt ohne jegliche Bewegungen an. Diesen Anblick fand Lisa zum Lachen komisch.
„Da habe ich aber jemanden aus den Träumen gerissen", kicherte sie und zog mich näher an sich. Ich saß nun direkt an ihr, unsere Schultern und Beine berührten sich. „Du bist schon echt eine süße kleine Maus", flüsterte sie, dabei streichelte sie mir über den Rücken.
Vor lauter Aufregung hielt ich die Luft an. Es war einfach zu aufwühlend, ihr so nahe zu sein. Ich hatte es mir immer gewünscht und war nun gleichzeitig überglücklich und irgendwie auch überfordert. Wenn sie nur wüsste, welch eine Wirkung sie auf mich hatte...

„Wollen wir weiter?", fragte sie dann. Ich war noch immer perplex, auch als sie aufstand und die Wasserflaschen und Gummibärchen in ihre kleine Tasche packte.
Viel zu spät antwortete ich: „Ja, gerne." Lisa lachte wieder und ich hatte irgendwie das Gefühl, dass sie eine kleine Ahnung hatte. In Gedanken ermahnte ich mich und nahm mir fest vor, nicht zu auffällig zu sein.

Diese vielen kleinen Unsicherheiten meinerseits beeinträchtigten die wunderbare, fröhliche und freie Stimmung, die wir hatten.
Ich versuchte Lisa irgendwelche Informationen über den Naturpark zu vermitteln und kam dabei ständig durcheinander. In diesen Momenten versuchte Lisa, die lockere Atmosphäre durch kleine Witze wiederherzustellen, die so süß waren, dass mein Herz immer wieder ins Rasen geriet. Dennoch hatte ich das Gefühl, mich nicht mehr richtig zu verhalten und hatte Angst, dass Lisa deshalb bald fahren wollte.

Als wir fast wieder auf dem richtigen Wanderweg waren, hielt Lisa mich fest. „Nina", sagte sie bestimmt, „irgendetwas beschäftigt dich. Das merke ich schon die ganze Zeit."
Angst überkam mich. Mir wurde abwechselnd heiß und kalt. „Ich, äh", stammelte ich, „Ich bin nur... Ich glaube..."
Lisa stand mir gegenüber und sah mich verständnisvoll an. „Wenn du darüber reden möchtest, bin ich da. Wie in der Schule."
Ich senkte meinen Blick und murmelte: „Naja, ich weiß nicht, ob..." Weiter kam ich nicht. Lisa blieb ganz ruhig und legte einfach nur ihre Hand auf meine Schulter. Ich startete noch einen Versuch: „Ich glaube, dass ich... Also eigentlich weiß ich... äh, ich meine, es ist nicht so, wie alle es vermutlich denken würden, es ist anders. Aber irgendwie doch so gleich."

Mit all diesem Gestammel konnte Lisa nichts anfangen. Trotzdem blieb sie bei mir, sah mich verständnisvoll an und versprach: „Ich werde versuchen, es zu verstehen. Und wenn ich es nicht verstehe, bin ich trotzdem für dich da."

Dies war der ausschlaggebende Moment, der mir die Kraft gab, all diese Dinge auszusprechen, die schon lange durch mein Kopf und durch mein Herz sausten und sehnsüchtig darauf warteten, freigelassen zu werden.
„Ich bin dir so dankbar, Lisa. Für den heutigen Tag, aber auch für all die Dinge, die du in der Schule für mich getan hast. Für dein Engagement bei meinen Angstattacken, deine Hilfsbereitschaft, deine Kooperation mit mir und auch mit meiner Therapeutin. Dafür, dass du immer so lieb und verständnisvoll bist, dass du in jeder Situation das Gute siehst und immer an mich glaubst. Für die kleinen Momente in der Kirche, zum Beispiel als du mit mir das Kirchenbuch geteilt hast, für die Umarmungen nach der Prüfung und der Zeugnisvergabe, für deine Ehrlichkeit, für jedes gute Wort.
Ich weiß nicht, wie ich das anders sagen soll, aber all diese Dinge haben dazu geführt, dass du mir immer wichtiger geworden bist. Ich mochte dich eigentlich schon bevor wir uns kannten. Schon damals wusste ich, dass du großartig bist, das war einfach so ein Bauchgefühl und das hat sich im Laufe des Schuljahres und ganz besonders heute immer wieder bestätigt. Du bist wundervoll. Ich... Ich..."
Lisa lächelte mich noch immer an und sagte mit einer noch weicheren Stimme als je zuvor: „Das hast du mir in dem Brief schon alles geschrieben und du weißt, dass ich das gerne getan habe. Ich habe mich unglaublich gefreut, dass ich dir so helfen konnte. Das höre ich wirklich gerne. Aber du möchtest mir noch etwas sagen. Sprich es aus, Nina."
Ich sah ihr tief in die Augen, meine eigenen Augen füllten sich dabei mit Tränen der Angst, Erleichterung, Freude, Dankbarkeit, Hoffnung und Ungewissheit. Noch bevor die erste Träne sich auf den Weg machte, über meine Wange zu kullern, flüsterte ich: "Lisa... Ich liebe dich."

BargerveenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt