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Während ich noch dabei war, mir alle möglichen Konsequenzen, besonders die negativen, zu erdenken, stand Lisa auf und stellte sich an einen Holzpfahl, der sich schräg vor der Bank befand.
„Ist wirklich alles in Ordnung bei dir?", fragte sie von dort aus noch einmal, weil ich noch immer auf meine Füße starrte.
Verunsichert hob ich meinen Kopf an und sah vorsichtig in ihre Richtung.
Sie sah unfassbar schön aus, wie sie sich an den Pfahl gelehnt hatte. Ihre Haare wehten durch eine kleine warme Sommerbrise hinter ihre Schultern.
Mir wurde immer wieder von neuem klar, wie schön diese Frau eigentlich war, wie unfassbar hübsch, intelligent und lieb.

„Nina?"
Ich war schon wieder in Gedanken versunken während ich sie beobachtete. Und wieder einmal hatte sie mich erwischt.
„Oh... äh, sorry", stammelte ich, „Hast du was gefragt?"
Sie lachte. Sie lachte laut und süß, kam ein paar Schritte auf mich zu, um in meinen Haaren zu wuscheln. „Ich habe gefragt, ob alles in Ordnung ist", wiederholte sie, noch immer lachend.

Sie war mir also überhaupt nicht böse und machte sich vermutlich nicht einmal Gedanken darüber, weshalb ich sie so verträumt ansah. „Ja, alles gut", brachte ich nun endlich hervor und lachte auch - aus Erleichterung.
„Wollen wir weiter?", fragte sie nun.
Noch bevor ich antworten konnte, hatte sie sich schon wieder meine Hand geschnappt und zog mich hinter sich her. Tausende Gefühle durchströmten meinen Körper, ausgelöst von vielen kleinen elektrischen Impulsen an den Stellen, an denen sie mich berührte. Ich fragte mich ernsthaft, ob sie es auch spürte, wie sehr meine Hand dort kribbelte, wo sie in ihrer lag. Ebenso wunderte ich mich darüber, dass all die Funken, die ich definitiv zu spüren meinte, gar nicht zu sehen waren.

Unten auf dem Weg angekommen, ließ Lisa meine Hand wieder los. Auf der einen Seite war ich froh darüber, weil ich dachte, dass sie sonst tatsächlich noch Funken abbekommen hätte, auf der anderen Seite wollte ich jedoch nichts sehnlicher, als ihre Hand noch viel länger in meiner zu halten.

Wir gingen ein paar Meter weiter, zurück in Richtung Aussichtsturm. Mir wurde klar, dass sie wieder fahren würde, wenn wir wieder dort ankämen und das wollte ich nicht. Ich wollte noch so viel Zeit wie möglich mit ihr verbringen. Da zeigte sich auf der rechten Seite ein kleiner Pfad zwischen Wollgras und Heide.
Von allen guten Geistern verlassen, nahm ich Lisas Hand und zog sie wortlos vom Weg ab mitten auf den Pfad. „Huh?", fragte sie und lachte gleich darauf. Sie lachte immer so bezaubernd.
Um mich bloß nicht noch mehr zu blamieren, versuchte ich möglichst sachlich zu erklären: „Also das ist Wollgras. Das heißt so wegen diesen Wolle ähnlichen Dingern."
Sofort ärgerte ich mich über meine Wortwahl, die alles andere als sachlich war. Und Lisa lachte noch lauter. „Oh Nina", kicherte sie, „Was hast du nur mit mir vor?"

Schon wieder errötete ich und wich ihrem Blick aus. „Äh...", versuchte ich zu reden, „Also... diesen Weg kenne ich noch gar nicht.  Wollen wir -"
Weiter kam ich nicht. Lisa fiel mir kichernd ins Wort: „Au ja! Ich liebe Abenteuer!"
Ein großer Stein fiel mir vom Herzen und die Liebe machte mich gleich wieder überglücklich. „Also los!", quietschte ich nun auch voller Euphorie.

Je weiter wir gingen, desto schmaler wurde der Pfad und umso höher wuchs das Wollgras links und rechts neben uns. Irgendwann war der Weg so schmal, dass wir hintereinander laufen mussten. Erst war ich etwas traurig darüber, weil Lisa so nicht mehr dicht an mir lief und mich nicht mehr berührte. Doch dies legte sich schnell wieder, denn kurz später nahm Lisa sich meine Hand und das wundervolle Kribbeln war wieder da.

Zuerst genossen wir das Summen und Brummen der Natur, bis Lisa plötzlich begann, eine leise Melodie zu summen. Nach drei Tönen erkannte ich das Lied und tausende Erinnerungen kamen wieder hoch.
Der Prüfungssegen, als sie in der Kirche meine Hand hielt, der Morgenimpuls, bei welchem sie im Stuhlkreisraum neben mir saß, der Abschlussgottesdienst, die Zeugnisvergabe.
„Und bis wir uns wiedersehen, halte Gott dich fest in seiner Hand. Und bis wir uns wiedersehen, halte Gott dich fest in seiner Hand", sangen wir plötzlich laut und wie aus einem Munde.
Sie machte mich so glücklich. Sie gab mir das Gefühl, endlich dort zu sein, wo ich schon immer hin wollte - ohne zu wissen, wo wir überhaupt gerade waren. Dabei fragte ich mich, ob der irische Segensgruß auch für Lisa eine besondere Bedeutung hatte. Aber zu fragen traute ich mich nicht, denn dann würde sie auch mich fragen und um ihr diese Antwort zu geben, war ich noch nicht bereit.

BargerveenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt