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Es verging eine gefühlte Ewigkeit und meine Angst vor ihrer Reaktion wurde immer größer. Eine Träne nach der anderen verließen meine Augen und kullerten an meinen Wangen hinunter.
Lisa kramte aus ihrer Tasche eine Packung Taschentücher hervor und zupfte eines heraus. Doch anstatt es mir zu geben, kam sie auf mich zu und begann selbst, meine Tränen damit zu trocknen.
„Nina. Es ist in Ordnung. Alles ist gut. Ich bin dir nicht böse und ich habe auch nicht vor, dich dafür zu verurteilen", sagte sie und schenkte mir ein ehrliches Lächeln. „Weißt du, eigentlich fühle ich mich sogar geschmeichelt. Ich finde das süß. Aber ich glaube auch nicht, dass du mich so liebst, wie ich beispielsweise meinen Mann liebe."

In der Ferne hörten wir eine Gruppe Radfahrer ankommen. Die sollten mich auf keinen Fall in diesem Zustand sehen. Zu meinem Glück war Lisa schon immer sehr feinfühlig, sie legte ihren Arm um mich und führte mich wieder weiter zurück auf den schmalen Pfad.
„Hier sieht uns keiner", versprach sie.

Mein ganzer Körper zitterte und ich wusste nicht, ob mir kalt war, ob ich erleichtert war oder ob ich Angst hatte. Ich war schlichtweg überfordert mit mir selbst.
Bis Lisa mich plötzlich ganz fest in ihren Arm nahm und noch einmal voller Überzeugung versprach: „Alles ist gut, Nina. Ich bin wirklich froh, dass du mir das jetzt gesagt hast. Ganz ehrlich, ich hatte manchmal schon so Vermutungen. Schon in der Schule hatte ich oft den Eindruck, dass du mit deinen Gedanken woanders warst. Und nicht nur aufgrund deiner Ängste hast du dich anders verhalten als deine Mitschüler. Ich habe noch nie einen so netten Brief bekommen. Noch kein Schüler hat sich mir je so geöffnet wie du. Natürlich mag das auch sehr mit deiner Vergangenheit zusammenhängen und damit, dass ich mit dir in der Schule so oft über deine Probleme geredet habe, deine Praxisbegleiterin und Ansprechperson war. Und deshalb glaube ich, dass das von deiner Seite aus einfach eine ganz große Wertschätzung und Dankbarkeit ist. Jetzt bist du noch verwirrt, gerade weil wir nun in einem anderen Verhältnis zueinander stehen. Weil ich nicht mehr deine Lehrerin bin. Weil wir uns duzen, die Distanz ist nicht mehr so gegeben. Du darfst es auch natürlich Liebe nennen, ohne Frage. Ich bin mir aber ganz sicher, dass das eine andere Art von Liebe ist. Oder?"

Allmählich beruhigte ich mich. Ich hörte auf zu weinen, fühlte mich aber noch immer schlapp und verletzbar. Doch Lisas Worte bauten mich auf, gaben mir neue Hoffnung. Ich nickte ganz leicht und flüsterte: „Ich weiß es nicht. Wirklich nicht. Und wenn es doch so wäre?"
Lisa löste sich aus der Umarmung, setzte sich in die Hocke, um mir trotz des gesenkten Blickes in die Augen schauen zu können und meinte dann: „Wenn es doch so wäre, würden wir auch dafür einen Umgang finden. Aber du bist jetzt noch zu verwirrt. Und das ist auch gar nicht schlimm. Ich finde es, wie gesagt, wirklich mutig von dir, dass du es mir gesagt hast. Und ich verspreche dir, dass diese Gefühle nichts an unserem Verhältnis ändern. Du hast dich schließlich nie daneben benommen, du bist nicht eifersüchtig auf meinen Mann und meine Kinder... Oder?"
Ich schüttelte sofort ganz stark meinen Kopf. „Um Gottes Willen, nein! Ich bin so froh, dass du so eine wundervolle Familie hast. Du bist so glücklich und das ist das, was für mich zählt."
Lisa lächelte. „Ja, das ist bedingunslose Wertschätzung", sagte sie, "In dieser Hinsicht liebe ich dich auch. Nina, ich glaube, wir können auf einer ganz anderen Ebene miteinander kommunizieren. Eine Ebene, die in der heutigen Zeit leider immer mehr verloren geht. Kannst du dir vorstellen, was ich meine?"

Ich dachte kurz nach und hatte schon gleich die Worte meiner Therapeutin im Kopf, die sie mir im Februar gesagt hatte: „Sagen Sie doch nicht immer, Ihre Liebe sei einseitig und hoffnungslos, Frau Smit. Das ist sie nicht. Sie haben mir erzählt, dass Frau Prins Sie ohne Worte versteht und Ihnen ohne Worte hilft. Das ist eine Art von Kommunikation auf der emotionalen Ebene. Wie Sie es schon sagten, die Kinder aus Ihrem Praktikum können das auch. Aber die meisten Erwachsenen verlernen das leider, weil sie sich voll und ganz auf ihren Verstand verlassen und jegliche Gefühle unterdrücken. Sie werden von Normen und Regeln, Vorstellungen über 'richtig' und 'falsch' geleitet, nicht mehr vom Bauchgefühl und dem, was sie wirklich wollen. Aber Sie und Frau Prins haben es nicht verlernt. Bitte behalten Sie das bei. Sie dürfen das zwischen Ihnen und Frau Prins auch als Liebe bezeichnen. Als eine ganz besondere Form von bedingungsloser Wertschätzung."

Lisa sah mich fragend an. „Woran denkst du?" Ich schmunzelte und antwortete dann glücklich und erleichtert: „Du hast recht. Es ist auf einer anderen Ebene. Ich weiß, was du meinst. Und meine Therapeutin wusste das schon vor langer Zeit."
Lisa lachte. „Da hast du aber eine schlaue Therapeutin!" 

Nun stand Lisa wieder auf und legte ihre Arme noch einmal ganz fest um mich. Ich erwiderte die Umarmung und atmete erleichtert tief ein und aus, worüber Lisa lachen musste. Sie war wirklich bezaubernd und sie lachte so oft und so süß. Dann meinte sie: „Wenn du wieder solche Gefühle hast, rede bitte mit mir darüber. Am besten so früh wie möglich. Ich würde dich niemals verurteilen oder den Kontakt abbrechen. Das wäre total dumm und sinnlos. So etwas mache ich nicht. Du bist eine vollwertige junge Frau, genau wie ich. Und wir lieben uns auf einer ganz besonderen Art. Ich bin echt froh, dich kennengelernt zu haben."

BargerveenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt