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Einige Stunden später gab es Mittagessen. Ich fühlte mich wieder ein bisschen ausgeglichener, weil das Pflanzen neuer Blumen mir neue Energie verschaffte. Zudem hatte ich mich dazu bereiterklärt, die größte Rasenfläche unseres Hofes zu mähen.
So saß ich mit meinen Eltern am Mittagstisch und unterhielt mich mit ihnen über verschiedene Möglichkeiten, unseren Garten noch etwas bunter zu gestalten.

Im Anschluss daran verabschiedete ich mich für eine Radtour. Aus Angst, erneut Liebeskummer zu bekommen, wählte ich zunächst Hauptstrecken, an denen ich vielen Menschen begegnete, denn in Anwesenheit anderer konnte ich nicht weinen.
Als wäre es unvermeidbar, führte mich der Weg letztendlich aber doch wieder auf die Straße mit den rot markierten Radwegen und wenn ich schon dort war, musste ich auf jeden Fall in das Naturschutzgebiet. Manchmal hatte ich das Gefühl, Bargerveen würde mich magnetisch anziehen.

Während ich so dahin radelte, kamen und gingen meine Gedanken und kein Gedanke verging ohne irgendeine Verbindung mit Frau Prins. Ich liebte diese Lehrerin, ich liebte sie wirklich sehr und ich konnte mir mein Leben ohne sie nicht mehr vorstellen. Sie hatte mir so gut getan. Von ihr hatte ich weitaus mehr gelernt als das, was sie mit uns im Unterricht durchnahm.

Viele Fragen flogen kreuz und quer durch meinen Kopf. Wie konnte es sein, dass ich ausgerechnet sie so sehr liebte? Waren nicht andere Lehrkräfte auch so nett gewesen? Was genau faszinierte mich an ihr mehr als an anderen? Ich hatte schon einige Lehrer bewundert. In Herrn Bakker war ich sogar schon richtig verliebt gewesen, scheinbar war ich es sogar noch immer. Doch bei Frau Prins war es keine Verliebtheit. Ich konnte nicht erklären, was genau sie in mir auslöste. Der einzige Begriff, der ansatzweise passte, war bedingungslose Liebe. Aber wie konnte es sein, dass ich ausgerechnet sie bedingungslos liebte? Woher kamen diese Gefühle als ich sie noch nicht einmal kannte? Wie konnte es sein, dass ich mich schon im ersten Augenblick kein Stück dagegen wehren wollte, mich für die Liebe entschied und damit gleichzeitig bereit war, den Schmerz auf mich zu nehmen, wo ich doch sonst immer Angst vor Gefühlsüberwältigungen hatte?

Frau Prins musste irgendetwas an sich haben, was mich dazu bewegte, mein Herz ein ganzes Stück weiter zu öffnen und so weh diese Sehnsucht auch tat, sie hatte stets etwas Wunderschönes. Denn von diesem Moment an, an welchem ich mir eingestanden hatte Frau Prins zu lieben, wurde mir bewusst, dass ich noch zu Lieben fähig war und das wurde mit der Zeit der Schnelllebigkeit und der Wegwerfgesellschaft immer seltener. Somit sah ich es als Geschenk, meine Lehrerin lieben zu können, auch wenn sie wahrscheinlich nie erfahren könnte, wie viel sie mir wirklich bedeutete.

Ich dachte an unsere erste Begegnung, als ich sie sah und dachte, ich würde sie seit Ewigkeiten kennen. Sie erinnerte mich an jemanden, an eine Person, die ich eigentlich wirklich schon seit Ewigkeiten kannte. Sie erinnerte mich an die Person, die ich eigentlich war. An mein eigentliches Selbst, welches tief unter meinen Fassaden in mir lebte und darauf wartete, befreit zu werden. Sie war es, die mich dies erkennen ließ. Mein Herz pochte immer schneller und plötzlich befand ich mich mitten in Bargerveen.
Ein Blick auf mein Tacho verriet mir, dass ich schon 35 Kilometer geradelt war und dass es höchste Zeit für eine kleine Pause wurde. Die Bank auf dem kleinen Hügel war noch frei. Deshalb stieg ich von meinem Fahrrad, schob es den Hügel hinauf und stellte es neben der Infotafel ab.
In meinem Rucksack hatte ich eine Flasche Wasser und einen Apfel. Den Apfel wollte ich mir jedoch für später aufbewahren, denn ich ging nicht davon aus, dass ich schon bald heimfahren würde. Ich trank ein paar Schlucke und setzte mich auf die Bank.

Von dort aus hatte ich eine wunderschöne Aussicht über die Sümpfe, Sträucher und Wildblumen. Ein Birkhahn stolzierte gerade über einen schmalen Pfad zwischen zwei Sümpfen her. Um ihn herum flogen bunte Schmetterlinge und tiefblaue Libellen. Ich stellte mir vor, wie wunderschön es nun wäre, wenn Frau Prins doch nur bei mir säße und mit mir gemeinsam die Ruhe und die Schönheit der Natur genießen könnte. Wie gerne hätte ich ihr doch einmal den Park gezeigt.

„Lassen Sie sich nicht von den Äußerungen unterkriegen. Ich kann mir vorstellen, dass die Kollegen manchmal zu schnell reden und Dinge sagen, die sie gar nicht so meinen. Sie wissen vermutlich nicht einmal, dass diese Wortwahl Sie verletzt", wiederholte ich eines meiner Lieblingszitate dieser wundervollen Lehrerin, „Sie werden diese Ausbildung bestehen, das weiß ich. Und wenn das in diesem Kindergarten nicht klappt, werden wir einen anderen Praktikumsplatz für Sie finden. Durchfallen gibt es bei mir nicht."

Mittlerweile hatte ich die Ausbildung tatsächlich bestanden. Dank Frau Prins. Durch ihre Wertschätzung und ihr Engagement konnte ich die nötige Stärke noch irgendwie aufbringen. Mit Frau Prins hatte ich viele Fortschritte gemacht und ich konnte einfach nicht damit umgehen, dass dieses Schuljahr nun vorbei war, dass Frau Prins nie wieder meine Lehrerin würde und ich sie nicht mehr regelmäßig sehen könnte.
Sie war nicht von der Welt, wir besuchten auch nach den Ferien noch dieselbe Schule und ich hätte durchaus die Möglichkeit gehabt, sie auf dem Flur zu sehen. Doch diese neun Wochen, in denen ich nun irgendwie ganz ohne sie klarkommen musste, erschienen mir endlos lang. Doch das Schlimmste war nicht die physische Entfernung zu ihr, sondern die Angst, sie als meine Vertrauensperson zu verlieren. Denn ich hatte noch nie zuvor einem Menschen so bedingungslos vertraut wie ihr. Sie war der einzige Mensch, vor dem ich wirklich ich selbst sein konnte, der einzige Mensch, vor dem mir meine Ängste und Verletzlichkeiten nicht peinlich waren. Denn bei ihr wusste ich, dass sie mich niemals verurteilen würde.

Mein Herz stolperte und wurde mit einem Male wieder unendlich schwer. Die Sehnsucht nach Frau Prins warf sich mit voller Wucht gegen meine innere Schutzmauer und brachte diese erneut zum Einsturz. Es gab keinen Halt mehr, es überkam mich einfach und eine Träne nach der anderen kullerten unaufhaltsam an meinen Wangen hinunter.
„Frau Prins", wimmerte ich, „Frau Prins, wo sind Sie nur? Ich liebe Sie, ich vermisse Sie und ich brauche Sie gerade so sehr."

BargerveenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt