4

1.2K 80 0
                                    

„Reichen Sie sich beim Vater Unser Ihre Hände und schließen Sie alle Menschen dieser Welt in Ihr Gebet mit ein", sagte der Fachleiter Pädagogik. Mein Herz begann zu rasen. Auf meiner linken Seite saß Frau Prins. Ich fragte mich, ob sie meine Hand überhaupt halten wollte. Etwas verunsichert sah ich in ihre Richtung. Genau in diesem Moment wandte auch sie ihren Blick auf mich. Ein elektrischer Schlag durchfuhr meinen ganzen Körper und brachte mich völlig durcheinander. Dann fing sie auch noch an zu lächeln. Mir wurde mit einem Male richtig warm. Mein Gesicht schien knallrot geworden zu sein und so sehr ich es auch wollte, ich konnte meinen Blick nicht mehr von ihr abwenden, bis sie plötzlich aufstand und mir ihre Hand entgegen hielt. Alle Zweifel flogen von mir. Sie lächelte noch immer und ihre hellblauen Augen strahlten wunderschön. Mir fiel es unglaublich schwer, in diesem Zustand überhaupt aufzustehen. Meine Beine fühlten sich so weich an wie Wackelpudding. Auch meine Hände zitterten. Doch irgendwie schaffte ich es doch, stand auf, ergriff die Hand meiner Lehrerin und war mit einem Male angekommen. In mir ging ein Licht auf, es wurden tausende Feuerwerke entfacht und eine leise Stimme erklang in meinen Gedanken: „Willkommen zu Hause."

Zu Hause, das war genau das, was ich fühlte. Wenn Frau Prins mich festhielt, war ich zu Hause. Nicht im physischen oder lokalen Sinne. Doch im emotionalen Sinne allemal. Wenn Frau Prins mich berührte, war ich ganz und gar bei mir. Ich hatte keine Angst mehr, keine Selbstzweifel, keine negativen Gedanken. Es war einfach alles gut.
Meine rechte Hand wurde von einer Klassenkameradin ergriffen. Aber das nahm ich kaum wahr. Alles, was in diesem Moment zählte, war Frau Prins. 
So stand ich Hand in Hand mit meiner Lieblingslehrerin in der kleinen Kapelle und betete das Vater Unser. Es hätte nicht magischer sein können. Ich wünschte, dieses Gebet wäre endlos gewesen, aber das war es leider nicht. Am Ende ließ meine Klassenkameradin meine Hand direkt wieder los und setzte sich zurück auf ihren Platz. Frau Prins drückte meine linke Hand noch einmal und löste damit viele weitere Überflutungen von Gefühlen in mir aus. Wie in Trance hielt ich sie noch zwei Sekunden länger fest und rührte mich kein Stück, bis Frau Prins ihre Hand zärtlich aus meiner zog und mich vorsichtig und voller Wertschätzung zwei Schritte zurück zu unseren Plätzen schob.
Ich war total überwältigt und durcheinander. Und als wir dann zum Abschluss auch noch den irischen Segensgruß sangen und Frau Prins ihr Kirchenbuch mit mir teilte und sie einfach jeden Ton mit ihrer wahnsinnig niedlichen Stimme traf, war für mich absolut Himmel auf Erden.
Als wäre das alles noch nicht überwältigend genug gewesen, nahm sie mich nach dem Lied halb in den Arm und flüsterte: „Nina. Ich wünsche Ihnen viel Erfolg bei Ihren schriftlichen Prüfungen."
Dasselbe wiederholte sie bei meiner Sitznachbarin, dann bei der nächsten Person und bei all meinen Klassenkameraden und ich blieb in der Bank sitzen und starrte ihr ungläubig und überglücklich hinterher.
Nach und nach verschwanden die Schüler und Lehrer aus der Kapelle. Der Fachleiter Pädagogik knipste am Altar die Lichter aus.

Dann verschwanden auch die Kerzen, die Bänke vor, neben und hinter mir, die Orgel und der Altar und mit einem Male fand ich mich in Bargerveen auf der kleinen Holzbank auf dem Hügel wieder.
Es war nur ein Traum; ein Flashback vom vierten April, dem ersten Schultag nach den Osterferien, an welchem wir unseren Prüfungssegen empfingen...

„Frau Prins...", schluchzte ich immer wieder, „Bitte kommen Sie zu mir, halten Sie wieder meine Hand, nehmen Sie mich in den Arm und sehen Sie mich mit Ihren strahlenden Augen an, wie mich kein anderer ansehen könnte. Ich vermisse Sie so sehr. Ohne Sie fühlt sich alles so leer an und ich fühle mich so sinnlos..."

Mir war noch nie so bewusst gewesen, wie sehr es stimmte, dass ich ohne meine Lehrerin nicht mehr leben konnte. Sie war es, die mich immer wieder an die schönen Dinge des Lebens erinnerte. Manchmal bewusst, manchmal sogar unbewusst. Sie konnte nicht ansatzweise erahnen, wie gut sie mir getan hatte. Selbst an den schlimmsten Tagen hatte ein aufrichtiges Lächeln von ihr ausgereicht, wieder Licht in meine Dunkelheit zu bringen. Selbst dann, wenn das Lächeln nicht einmal direkt an mich gerichtet war. Wenn es ihr gut ging, ging es mir automatisch auch gut, ganz egal was vorher war.
Als meine Ausbildung zu scheitern drohte, stand ich morgens trotzdem auf, um sie zu sehen. Denn sie zu sehen machte mich glücklich und stark. Und wenn sie mir sagte, dass sie an mich glaubte, konnte auch ich wieder an mich glauben. Ich hatte mich selbst so oft verloren, doch sie half mir immer wieder dabei, mich wiederzufinden.
Jetzt war sie nicht mehr da. Ich fühlte mich mir und meinen schlechten Gedanken schutzlos ausgeliefert. Ich hatte Angst vor mir selbst, Angst davor, zurückzufallen und meine Vergangenheit wieder zu nah an mich heranzulassen. Durch Frau Prins hatte ich gelernt, meine Vergangenheit zu akzeptieren. Doch jetzt, wo sie nicht da war, hatte ich wieder riesengroße Angst.

Die Osterferien waren durch einen spontanen Zwischenfall schon kaum auszuhalten gewesen und diese waren nur zwei Wochen lang. Wie sollte ich nun neun Wochen überstehen? Neun volle Wochen ohne den kleinsten Kontakt zu ihr, ohne ihr Lächeln, ohne ihre Worte, ohne auch nur eine E-Mail von ihr...

Ich blieb noch längere Zeit regungslos dort sitzen und starrte Löcher in die Luft. Mein Herz zerbrach in viele Teile und ich starb mehrere Tode. Jede kleine Erinnerung an Frau Prins machte die Sehnsucht größer und unaushaltbarer. Ich musste zu ihr. Ich musste so schnell wie möglich zu ihr, denn sonst könnte dies mein Untergang sein.

BargerveenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt