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„Du lügst", kam aus meinem Mund. Ich glaubte ihm nicht – wollte ihm nicht glauben. Meine Hände zitterten, mir wurde schwindelig und ich klammerte mich an den Karton der Pizzen, als würden sie mir Halt geben. Lautlos formten meine Lippen erneut: „Du lügst."

Doch Titus trauriger Blick verriet mir, dass er die Wahrheit sagte. Mein großer Bruder, der für mich etwas wie der starker Retter in der Not war, schien so schwach, so wehrlos.

Er hielt es nicht aus, der Überbringer dieser Nachricht zu sein.

„Wo ist Mum?", fragte ich leise.

Alea trat zu uns. Ihr blasses Gesicht schien verhärtet, leblos. Als hätte ihr jemand ihre unschuldige Kindheit geklaut und sie mitten in ein Leben geschmissen, in dem Trauer und Ungerechtigkeit herrschten.

Man hörte viele grauenvolle Geschichten im Betrieb. Familien, die auseinander gerissen werden, weil es zu gefährlich ist, sich zu treffen. Geheimagenten, die auf schreckliche Weise gefoltert und umgebracht werden. Kinder von Agenten, die entführt werden und als Geisel gehalten werden. Eltern, die nicht mehr zurückkehren und die ihre Kinder alleine lassen.

„Sie.. Sie fliegt zu Papa", flüsterte Alea. „Nach Thailand."

Alea sprach das Land völlig ohne Begeisterung aus. Normalerweise würde Thailand in ihrem Mund wie der Himmel, wie das Paradies klingen. Sie liebte Südostasien, Papa brachte ihr häufig Andenken von dort mit, Postkarten und Schlüsselanhänger. Kuscheltiere. Irgendwelche Kleinigkeiten. Alea liebte die dortigen Kulturen, Sprachen und Länder. Und jetzt war genau dort so etwas schreckliches geschehen.

Titus räusperte sich und nahm Alea an seine Hand. Er begann zu erzählen: „Er hat mitten in einem Fall gesteckt. Man hat dafür gesorgt, dass er nach Thailand gebracht wurde. Ich weiß nicht, wo sein Auftrag genau stattgefunden hat, aber in Thailand ist es sicherer." Er klang überhaupt nicht überzeugend. „Sie wollen ihn so schnell wie möglich nach Deutschland bringen. A.. Aber das geht nicht so leicht. Er.. Er würde es.. es nicht..." Titus brach ab, seine Stimmer versagte. Selbst seine wilden Locken, die sonst so fröhlich und durcheinander von seinem Kopf standen, wirkten traurig. Er nahm mir die Pizzakartons aus der Hand und ging in die Küche.

Alea war still. Ungewohnt still. Es war furchtbar.

Unsere Blicke trafen sich kurz, doch Alea wandte sich ab und folgte Titus.

Alleine stand ich im Flur. Nur zögerlich stellte ich die Tüten vom Shoppen an die Treppe nach oben und schlüpfte aus meinen Schuhen. Jede Bewegung tat weh. Ich wusste nicht, ob die Schmerzen vom Kampf kamen oder ich sie mir nur einbildete.

In der Küche herrschte eisiges Schweigen. Titus stellte Teller auf den Tisch, Alea holte Besteck. Ich nahm mir mein Glas, füllte es mit Wasser und trank es aus. Wenig später aßen wir. Keiner brachte ein Wort über die Lippen.

Bis Alea, die sonst auch nie so still sein konnte, mich fragte: „Was hast du an deiner Stirn?"

Ich sah auf, konnte so eine banale Frage nicht fassen. Meine Finger, die fettig von der Pizza waren, berührten die Blutkruste an meiner Stirn. Der Kampf, erinnerte ich mich. Alles schien so unheimlich fern und unbedeutend zu sein. Zögerlich schluckte ich hinunter, versuchte eine passende Antwort zu finden. „Äh, ich bin mit einem Skateboardfahrer zusammengestoßen."

„Klingt nicht überzeugend", murmelte Titus leise. Aleas Augen dagegen waren nur groß geworden, als ahnte sie, dass dahinter etwas Geheimes und Gefährliches steckte.

Ob ich es sagen sollte? Ob ich von Niklas erzählen sollte? Von ihm und diesem Joke? Vielleicht kannte Titus den Typen, vielleicht hatte Niklas ihm etwas erzählt. Wir hatten noch nie über ihn geredet, wir erzählten uns fast nie etwas. Man erfuhr über den anderen für gewöhnlich nur etwas, wenn dieser es Mum oder Dad erzählte. Wir waren nicht die besten Geschwister. Das sollten wir dringend ändern. Aber wo sollte ich zu erzählen beginnen?

Mimula UndercoverWo Geschichten leben. Entdecke jetzt