Als Nicole am nächsten Morgen aufwacht, ist die restliche Familie schon zum Frühstück versammelt. Schnell zieht sie sich ein rotes Top und schwarze Shorts an. Wenigstens ist es hier in Kroatien bereits morgens angenehm warm. Wenn nicht sogar zu warm. Sie klettert über die Treppe aus den Tiefen des Schiffes ins Cockpit und quetscht sich dort auf die Bank neben ihre Schwester. "Guten Morgen, du Langschläferin! " begrüßt ihre Mutter sie fröhlich. "Morgen" brummt Nicole verschlafen, nimmt sich einen Teller, eine Scheibe Baguette und greift nach dem Nutella Glas. Da merkt sie, dass das Glas bis auf den letzten Rest leer ist. Plötzlich ist jede Müdigkeit verflogen und Wut macht sich in ihr breit. "Wer hat das Nutella leer gemacht? ", ruft sie vorwurfsvoll und schaut sich in der Runde um. Wenn der Tag bereits so beginnt, wie soll er dann auch nur annähernd besser werden, als der gestrige? Anna schaut betreten zu Boden und murmelt vor sich hin, dass das wohl auf ihr Konto gehe. Ihre Mutter wirft Nicole einen warnenden Blick zu, was diese zwar von aufgebrachten Beschwerden abhält, sie aber nicht daran hindert die Augen zu verdrehen. Das könnte schon fast ihr Markenzeichen werden, denkt sie genervt.
Nicole würde schon einen Morgen ohne Nutella auskommen, aber die Tatsache, dass ihre kleine Schwester es einfach leer gemacht hat, obwohl sie sehr genau weiß, wie sehr Nicole Nutella liebt, bringt sie auf die Palme. Anna will sich entschuldigen, aber Nicole möchte davon nichts hören und würgt sie mit einem kurzen "schon ok" ab, welches deutlich zu verstehen gibt, dass nichts an der Situation okay ist.
Nach einem Frühstück mit Marmeladenbroten, zwei nervigen Wespen und etwa vier Mal Augen verdrehen, macht die Crew ihr Schiff klar zum Ablegen. Alle Handtücher und Bikinis werden befestigt, Bücher an Deck gesammelt und weggepackt und die bevorstehende Route noch einmal überprüft. Es geht wieder mal in einen abgelegenen Hafen, mit gefühlt fünf Häusern und man kann schon von Glück sprechen, wenn man dort eine einzige öffentliche Toilette finden würde. An Duschen ist gar nicht erst zu denken und wehmütig wünscht sich Nicole, gestern noch mehr Zeit in ihre Dusche investiert zu haben.
Beim Ablegen helfen alle zusammen mit den Tauen und Planken.
"Leinen Los!", hört man den begeisterten Ruf von ihrem Vater. "Ahoi!", antworten Anna und ihre Mutter wie immer. Nicole verdreht die Augen über ihre peinliche Familie. Zum Glück kann keiner ihrer Freunde sie jetzt sehen! Ihre Freunde. Zu Hause. Bei den Gedanken kann sie nicht einmal mehr den frischen Wind in ihren Haaren genießen. Was Tamara wohl gerade macht? Vermutlich nicht an Nicole denken. So viel wie zu Hause im Moment los ist, bleibt für vermissen höchst wahrscheinlich keine Zeit. An ihrem zweiten Abend in Kroatien haben die beiden besten Freundinnen noch stundenlang telefoniert, aber seitdem ist jedes mal etwas dazwischen gekommen, also blieb es bei etlichen WhatsApp Nachrichten. Nicole hofft auf ein Restaurant in Zut, dem Ort, der ihr Ziel ist, damit sie ein bisschen WLAN hat.
Als ihr Boot schließlich den Hafen verlassen hat, das Logbuch geführt wurde, die Fender eingeholt und die Segel gesetzt sind, cremt Nicole sich ein, um nicht abends wie eine Tomate auszusehen. Den Fehler hat sie schon gemacht und es hat nicht nur zu Schmerzen, sondern auch dem typischen haben-wir-doch-gleich-gesagt-Blick ihrer Eltern geführt. Nicole nimmt sich ihr Buch, das durch die Nässe und das Salz schon sehr mitgenommen aussieht, obwohl sie gerade mal 40 Seiten gelesen hat. Nur in Shorts und Bikinioberteil legt sie sich auf ein Handtuch und als sie endlich eine gemütliche Position zwischen den Luken und Seilen findet, kann sie anfangen zu lesen.
Anfangs war ihr etwas mulmig, bei dem Schwanken durch die Wellen, aber inzwischen spürt Nicole es fast gar nicht mehr. Sie war von Anfang an gegen den Urlaub. Was wenn einer von ihnen Seekrank wurde? Aber ihre Bedenken wurden überhört, weil ihre Eltern schon seit Jahren von einem gemeinsamen Segelurlaub träumen und sich jetzt die Gelegenheit bestens ergeben hat. Eine entfernte Verwandte, Monica, von der Nicole nicht einmal wusste, was sie mit ihr zu tun hatte, war vor zwei Monaten gestorben und hatte ihnen die "Pharos" vererbt. Monica hatte nur eine Tochter, die den Rest der Erbschaft bekam aber obwohl die Seilers einen Segelschein haben, versteht Nicole nicht, wieso Monica ihnen ein Boot schenken musste. Ihre Eltern hatten sich beim Segelschein-Machen kennengelernt, deshalb kann Nicole verstehen, wie sehr sie sich gefreut haben müssen, aber es wäre doch sicher romantischer ohne Kinder. Da sie für das Boot an sich keine Ausgaben hatten, gehen sie Abends oft essen und Nicole entwickelt sich langsam zu einem riesigen Scampi-Fan. In Risotto, mit Nudeln, auf Pizza. Jedes Mal wenn sie eine neue Variante entdeckt, probiert sie sie sofort. Jetzt freut sie sich schon wieder auf das Abendessen, aber erst mal heißt es, ungefähr sieben Stunden nichts als Meer und Inseln, kein Internet und nur ihre Familie. Da ist es doch verständlich, dass sie lieber in eine andere Welt verschwindet. In ihren Büchern kann Nicole eine andere Person sein, an einem anderen Ort. Verliebt im romantischen Paris, oder als Agent in London auf Mission. Sie sucht sich ihr Doppelleben aus und versucht, ihrem Leben auf dem Segelboot zu entkommen. Während ihr die Sonne auf den Rücken prallt, ist Nicole gerade in Amerika, berühmt und bereit die Welt zu retten.
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Sommer unter Segeln
Teen FictionNicole ist 16 und kann sich nichts schlimmeres vorstellen, als einen 6-wöchigen Segelurlaub mit ihren Eltern und ihrer kleinen Schwester. Der süße Fabian scheint die Rettung zu sein, doch er hat ein Geheimnis, das sich ihnen in den Weg zu stellen dr...