Sommer unter Segeln 21

105 6 3
                                    


Nicole erstarrt. Das Schiff bewegt sich und der Motor dröhnt in ihren Ohren. Das darf nicht wahr sein, ärgert sie sich. Sie hastet aus Annas Koje und wischt sich dabei die Tränen aus dem Gesicht. Ohne, dass sie es gemerkt hat, musste sie beim Lesen schon wieder anfangen zu weinen. Der Brief ändert alles. Seine Worte sind so schön und erklären das Ganze. Nici kann ihn verstehen und ihm verzeihen, aber jetzt ist es zu spät. Wieso haben sie schon abgelegt. Unendlich viele Gedanken schwirren durch ihren Kopf. Außerdem ist Nici voll mit Gefühlen und sie könnte nicht sagen, welches die Oberhand hat. Wut auf Anna, Angst, dass sie Fabi nie wieder sieht, pures Glück, dass sich der Streit nur auf ein Missverständnis aufgebaut hat und die Liebe für diesen tollen Jungen, von dem sie sich jetzt immer weiter entfernen.
Sie stolpert die Treppe hoch, stößt irgendwo an, nimmt den Schmerz in ihrem großen Zeh aber nicht im Geringsten wahr. Das einzige, was sie in dem Moment sehen kann, ist der Steg, der immer kleiner wird. Mit ihm die Schiffe, die ruhig mit den Wellen schaukeln. Mit ihm Fabian und seine Familie. Wie gelähmt steht Nici da und kann nicht fassen, dass jetzt, da sie alles in Ordnung bringen wollte, alles verloren ist. Schon zum etlichsten mal in letzter Zeit steigen ihr Tränen in die Augen und erst, als das Pochen in ihrem Zeh einsetzt, kann sie den Blick von der "Maranta" abwenden. Stattdessen schaut sie zu ihren Eltern.
"Wieso fahren wir schon? Ihr meintet, wir können uns noch verabschieden!"
In ihrer Stimme liegt Trauer und Vorwurf, aber ihr Vater hinter dem Steuer sieht sie nur mit gerunzelter Stirn an.
"Was?", fragt Nicole aufgebracht.
Ihre Mutter scheint ebenso verwundert.
"Aber ich hab doch gerade gefragt, ob ihr euch verabschiedet habt und wir los können."
Da fällt es Nicole wie Schuppen von den Augen. Sie schlägt sich mit der Hand vor die Stirn, spürt noch den Nachklang ihrer Worte. Ja ja, alles gut! Wieso kann sie nicht wenigstens ein einziges Mal in ihrem Leben ihren Eltern zuhören? Jetzt kann sie die Tränen nicht länger aufhalten oder vielleicht weint sie schon länger. Sie spürt nur noch den Schmerz, dreht sich um, weicht Anna aus und verschwindet in ihrer Koje. Sie liegt auf ihrem Bett, verflucht sich selbst, Anna, ihre Eltern, einfach alles und jeden.
Anna steckt zaghaft den Kopf durch die Tür, doch Nici fühlt sich nicht im Stande, etwas zu sagen und Anna murmelt, dass sie besser später vorbei komme. Mit jeder Faser ihres Körpers leidet Nicole und wie sie so darüber nachdenkt, kommt es ihr dumm vor. Sie weiß überhaupt nicht, was Leid bedeutet und sollte froh sein, dass sie nur Liebeskummer hat. Also wischt sie sich die Tränen erneut aus dem Gesicht und sortiert ihre Gedanken. Immer wieder muss sie sich ermahnen, kein Selbstmitleid zu spüren, alles rational zu betrachten. Dazu setzt Nici sich aufrechter hin. Sie hält den Brief fest in ihrer Hand und fragt sich, ob es ihr jetzt besser ginge, wenn Anna geschwiegen hätte. Ohne den Brief wäre sie wütend auf Fabi und verletzt und vielleicht, könnte sie ihn, nach einiger Zeit des Rückzugs und der Trauer, vergessen. Mit dem Brief weiß sie, dass alles echt war. Jedes Kompliment und jede Berührung. Mit dem Brief hat sie noch Hoffnung auf eine gemeinsame Zukunft, oder zumindest eine Versöhnung.
Die Tür öffnet sich und Anna kommt jetzt doch rein. Nicole, die ihren Gedankengang weiter verfolgen will, ist kurz davor sie rauszuschicken, aber da sieht sie die Packung Gummibärchen. Nicole war schon immer leicht zu ködern, also rutscht sie ein Stück zur Seite und Anna setzt sich neben sie. Die Verpackung knistert und die beiden schweigen einvernehmlich, während sie essen.
"Ich... Es tut mir leid." Anna spricht leise und schnell, aber die Worte sind wichtig für Nicole. Sie hört die Reue und umarmt ihre kleine Schwester. Wie die beiden jetzt so zusammen sitzen, muss Nicole auch noch etwas los werden. Anna ist nicht die einzige, die sich entschuldigen sollte.
"Mir tut es auch leid. Ich war eine miese Schwester. Du musstest das alles ertragen, nur weil ich Mama und Papa nicht den Triumph gönnen wollte, wenn sie erfahren, dass es mir doch gefällt. Ich hätte nicht immer so nervig sein sollen, dann wäre das mit dem Brief auch gut gegangen. "
Anna drückt sie noch fester.
"Stimmt, du warst echt fies. Aber hey, ich würde sagen wir sind quitt. Und durch Fabi wurdest eigentlich ganz erträglich."
Nicole schmunzelt und piekst Anna in die Seite.
"Werd nicht frech." Die beiden lachen und Nici weiß, dass ihre Schwester Recht hat. Mit Fabi hatte sie endlich wirklichen Spaß an diesem Urlaub.
Sie bleiben noch ein wenig nebeneinander sitzen, jeder in seinen Gedanken vertieft, bis Anna wieder anfängt zu reden.
"Was wirst du jetzt machen?"
"Wegen Fabi?"
Anna nickt und schaut sie erwartungsvoll an.
"Hm... Ich würde mich gerne mit ihm vertragen, aber wer weiß, ob er das überhaupt will."
"Natürlich will er!"
"Dann werde ich wohl mal sehen, ob ich ihn auf Insta finden kann."
"Wieso das denn?! Ruf ihn halt einfach an."
Wieder ärgert sich Nicole, dass sie nie Nummern getauscht haben. Es ist komisch es auszusprechen, weil es einfach nur dumm war. Aber ohne WLAN und da sie sich sowieso die ganze Zeit gesehen haben, war es irgendwie unnötig.
Anna springt sofort auf, rennt aus der Koje und kommt wenige Sekunden später wieder rein. Stolz hält sie Nici ihr Handy vors Gesicht. Diese muss bei dem Anblick laut los lachen.
"Ey, lach nicht!", schmunzelt Anna. "Schau, ich hab Lias Nummer. Ich frag sie einfach nach Fabis."
Unendliche Dankbarkeit durchströmt Nicole, als ihre Schwester die Nachricht sendet und sie schließt sie wieder in ihre Arme.

Anna hat das Zimmer verlassen und Nici tippt immer wieder neue Texte in ihr Handy. Keiner scheint dem gerecht zu werden, was sie wirklich sagen möchte und jedes Mal löscht sie ihre Worte wieder. Einem Impuls folgend drückt sie schließlich einfach auf seine Nummer. Es klingelt einige Zeit. Dann ein wenig Rauschen.
"Hi?" Fabis Stimme klingt vertraut und Nicole schließt die Augen, als eine Welle des Glücks sie erfasst.

Sommer unter Segeln Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt