Kapitel 1

1.3K 51 9
                                    

„Du wirst heute zu deiner neuen Familie kommen. Bist du schon aufgeregt?", fragte mich meine Psychologin. Ich zuckte mit den Achseln. Aufgeregt war eigentlich eher etwas anderes. Ich war eher erleichtert.

„Erzähle mir, was in deinem Kopf vorgeht, May. Wie fühlst du dich bei der ganzen Sache?" „Erleichtert", antwortete ich, „ich kann endlich aus diesem Umfeld verschwinden und meine Vergangenheit hinter mir lassen. Ich habe nie irgendetwas Kriminelles tun wollen und noch schlimmer fand ich es, dass ich es die ganze Zeit über hatte verschweigen müssen, da ich sonst große Probleme bekommen hätte. Ich hasse es, wie Drogen Menschen so skrupellos machen können, dass sie ihr Pflegekind dazu anstiften, Geld zu stehlen oder andere Sachen zu klauen, damit sie sich neuen Stoff besorgen können und dem Kind dann auch noch alles in die Schuhe zu schieben. Sie wären sicherlich froh gewesen, wenn ich geschnappt worden wäre und dann anstatt Sozialstunden und vieler Bemerkungen in meiner Akte einfach in den Knast gesteckt worden wäre. Das wäre dann ein Maul weniger gewesen, dass sie hätten stopfen müssen."

Meine Psychologin starrte mich entsetzt an. Es war mir eigentlich schon klar gewesen, dass so eine Reaktion von ihr kommen musste. Sie würde es nicht zugeben, doch sie hatte die ganze Zeit über gedacht, dass ich in unseren Stunden, die ich aufgebrummt bekommen hatte, immer nur einen auf brav machen würde, um meine kriminelle Ader verdeckt zu halten. Sie hätte wohl echt nicht gedacht, dass ich die ganze Zeit über eigentlich zu nichts etwas gekonnt hatte.

Als sie mich mehrere Minuten danach immer noch mit offenem Mund anstarrte, beschloss ich, dass es nun Zeit für mich sein würde, zu gehen. Sie würde sicherlich mit mir in Kontakt treten, wenn ihr noch mal irgendetwas Wichtiges einfallen würde, dass ich unbedingt erfahren müsste.

Vor der Tür wartete schon eine Dame vom Jugendamt mit ihrem Auto auf mich. Sie würde mich jetzt zu den Carters bringen, meiner neuen Pflegefamilie. Das war bisher das Einzige, das ich in Erfahrung bringen konnte. Ich wusste nicht mal, wie sie mit Vornamen hießen oder ob das Paar Kinder hatte. Aber es konnte nur besser werden. Ich war so froh, dass ich meine alte Familie los war und ich würde sie keine Sekunde lang vermissen.

Während der Fahrt sagte die etwas pummeligere Frau mit ihrem gefärbten Haar, das wohl das Grau überdecken sollte, kein Wort. Ich war mir sicher, dass sie meine Akte gelesen hatte und nun stumm meiner neuen Familie alles Gute mit mir wünschte. Ich war ja auch so ein böses Kind. Ich konnte nur hoffen, dass meine neue Familie wenigtens so tolerant sein würde, dass sie mich nach einiger Zeit als Mensch anerkennen würden und nicht die Person vor sich sehen würden, die ich laut meiner Akte sein würde. Das konnte ich nämlich gar nicht leiden.

Als wir anhielten, stand die Familie schon vor dem Haus. Wir befanden uns in einem Vorort der Stadt, hier befanden sich sehr viele Reihenhäuser, die allesamt sehr schön schienen. Ich musste schlucken, als ich die erwartungsvollen Blicke der Familie sah.

Als ich sie mir näher ansah, erkannte ich, dass hinter den drei Kindern zwei Männer standen und von einer Frau weit und breit nichts zu sehen war. Ich hatte es also wohl mit einem homosexuellen Paar zu tun. Ob die Kinder alle adoptiert waren?

Ich trat neben der pummeligen Frau auf die Familie zu und versuchte dabei dagegen anzukämpfen, den Blick die ganze Zeit auf den Boden zu senken. Ich musste zugeben, langsam schien ich Panik zu schieben.

„May, das hier ist deine neue Pflegefamilie. Das sind die Carters. Das hier ist der älteste Sohn Thomas, er ist 16 Jahre alt, genau so wie du und das hier sind die Zwillinge Mason und Jenna. Sie beide sind 14 Jahre alt."

Ich schüttelte allen dreien die Hände und versuchte dabei ein Lächeln zustandezubringen. Der erste Eindruck zählte, wobei sicherlich schon vorher der erste Eindruck ruiniert war, als man ihnen erzählt hatte, wie meine Vergangenheit aussah.

„Hey, es freut mich sehr, euch kennenzulernen und dass ich hier sein darf."

Die Zwillinge lächelten mich zwar an, doch ich hatte das Gefühl, dass sie sich ziemlich unwohl zu fühlen schienen. Der Blick aus ihren blauen Augen ließ mich das zumindest vermuten. Sie hatten beide blonde Haare und sahen sich auch wirklich ähnlich, sodass sie beim gleichen Geschlecht sehr leicht als eineiige Zwillinge hätten durchgehen können.

Der ältere Junge, Thomas, schien wohl nicht solch eine große Panik vor mir zu haben. Er lächelte mich an und seinem Lächeln glaubte ich sogar. Er sah sehr nett aus, hatte dunkelblonde Haare und braune Augen, die sehr stark hervorstachen.

„Nun zu den beiden Dads. Das hier ist John und das ist Dave. Sie freuen sich wirklich sehr, dich kennenzulernen und dich als Teil der Familie zu integrieren." Ich schüttelte ihnen beiden die Hände und setzte dabei ein breites Grinsen auf. Ich sah auch sie lächeln und hoffte, dass sie mich mögen würden. Ich hatte kein Problem damit, dass sie schwul waren, ich hatte die Hoffnung, dass sie vielleicht wussten, dass ich, auch wenn ich bei allen nicht direkt der beste Freund war, dennoch eine nette Person war. Die beiden hatten sicherlich auch schon in ihrem Leben Probleme mit Vorurteilen gehabt. Außerdem hatten sie zugestimmt, mich aufzunehmen.

„Dann lasse ich euch mal alleine. May, ich wünsche dir einen schönen Aufenthalt bei der Familie Carter. Lebe dich gut ein, wir sprechen uns sicherlich mal wieder." Mich wunderte es, dass sie in der Lage war, einen freundlichen Satz an mich zu richten. Und ich hatte auch vor, so schnell nicht wieder mit ihr zu reden. Ich wolle mit niemandem von denen etwas zu tun haben, das Jugendamt war mein persönlicher Feind geworden.

Nachdem ich noch mal einen Blick auf die Carters geworfen hatte, wurde mir klar, dass das vielleicht wirklich eine Chance für mich war, dass dieses Mal alles gut werden könnte.

New Girl [Thomas Sangster FF]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt