20. Kapitel

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Meine Füße sind abgestorben. Meine Haare sind eingefroren. Die eiskalte Luft der Nacht zerstört meine Lungen. Und dabei geht mir bald die Puste aus. Aber ich muss weiter. Weiter weg.
Es dauert nicht lang, da habe ich das Dorf hinter mir gelassen und flüchte über eine zugeschneite Straße durch den Wald. Im Nacken Harry. Das Adrenalin treibt mich an. Ich erkenne seine Stimme gar nicht mehr wieder, so verzweifelt klingt er. Der Schnee verschluckt aber auch den Schall seiner dunklen Stimme.

Eistränen strömen meine roten Wangen hinab. Sie bleiben eingefroren auf meiner schmerzenden haut kleben. Wo soll ich überhaupt hin? Diese Frage stelle ich mir jetzt zum ersten Mal. Es wäre viel einfacher gewesen Harry aus dem Haus zu werfen.

Aber das hätte meine Mum niemals zugelassen. Deshalb scheint es mir als die einzige Lösung selbst davon zu laufen.

Und das nur, weil ich sauer auf ihn bin. Im Grunde ist die ganze Situation total lächerlich. Doch das ist mir egal.

„Louis! Verdammt Louis! Jetzt warte doch!"

Als bald erstarre ich und sehe eine steile Klippe hinab. Mein kaltes Blut pocht in meinen Fußsohlen und es fühlt sich an, als würden sie jeden Moment explodieren. Mir wird schwindelig.

Dann umklammern mich zwei lange Arme und ziehen mich ein ganzes Stück vom Abgrund weg. Zunächst lasse ich es zu, weil ich total paralysiert bin. Doch dann versuche ich ihn von mir zu stoßen.

„Es gibt ... keinen Grund! Keinen Grund dieser Welt! Keine Begründung, weshalb du mich verlassen könntest!", schreie ich und verpasse ihm einen ordentlichen Hieb mit meinem linken Ellbogen. In schmerzen stöhnend gibt er mich frei und bleibt erst am Boden, sodass ich mich aufrappeln kann. Schnell laufe ich wieder an den Rand dieses Berges und sehe mit wilden Gedanken hinab. Ein großer See erstreckt sich vor meinen Augen.

Es bedarf nur einer Bewegung meiner Beine und der Fall in die Erlösung wäre mein

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Es bedarf nur einer Bewegung meiner Beine und der Fall in die Erlösung wäre mein. Es ist genau das hier; die letzten Monate zusammengefasst in eine Situation.

Ich zucke kaum merklich zusammen, als eine erstaunlich warme Hand meinen Fußknöchel umfasst und fest umklammert. Mein Kopf senkt sich und ich sehe Harry hinter mir, am Boden im Schnee.

„Nicht.", formt er lautlos mit seinen blauen Lippen.

„Gib mir einen Grund es nicht zu tun, Harry."

Wackelig zieht er sich an mir auf, legt seinen breiten Mantel um uns und zieht mich an seine Brust, ehe seine Lippen meine sanft berühren. Alles in mir, wirklich alles will sich wehren. Aber mein Herz, das einzige, was mich bei ihm hält, ist stärker als ich. Und so bleibe ich.

„H-h-harry...", stottere ich und zittere selbst unter dem Mantel noch.

„Können wir bitte nach Hause gehen und in Ruhe darüber reden?", bittet er mich und hält mich so fest er nur kann.

„Damit du mich dann verlässt? Oh nein, sicher nicht."

Trotz meiner Wut kann ich ihn nicht los lassen. Es ist eine simple Sache in meinem Kopf. Eine ... Krankheit, die sich in meinen Kopf geschlichen hat.

Verlustängste.

„Wenn ich es dir erklärt habe, wirst du es verstehen."

Vor Wut und Kälte zitternd schüttle ich bloß heftig den Kopf und vergrabe mein Gesicht in seinem Pullover. Ich will das alles nicht mehr hören.

„Du hast gelogen.", schluchze ich weinerlich und kralle mich im Mantel fest.

„Ich habe mich dafür doch schon entschuldigt ..."

„Nein. Du hast gesagt du bleibst bei mir. Bis in den Tod. Am Tag unserer Hochzeit hast du mir ewige Treue geschworen."

Ich trete einen Schritt zurück, was Harry nur unfreiwillig zulässt. Ich sehe ihn wutverzerrt an.

„Nennst du das hier etwa eine Ehe?! Liebe?! Treue?! Ich verzeihe dir alles, was du mir angetan hast, jedes Mal kann ich es verkraften, aber nur, weil du bei mir bist! Wenn du jetzt gehst ..."

„Ich bin aus dem Knast geflohen!"

Sein plötzliches Geständnis macht mich sprachlos. Völlig baff sehe ich ihn an, während sich die Schneeflocken auf meine feuchten Haare setzten.

„Du hast ... was getan?"

„Ich bin mit etwas Hilfe entkommen, bin weggelaufen, um jetzt bei dir zu sein!"

Diese völlig unerwartete und neue Information sickert durch mein zerfetztes Sieb in meinem Gehirn und ich versuche darauf in irgendeiner Form zu reagieren.

Aber es klappt nicht.

„Ich kann nie wieder zurück nach London. Ich muss hier weg. Raus aus Europa. Irgendwo weit weg. Ich muss mein Leben komplett auf null setzen. Wenn sie mich finden, bleibe ich lebenslänglich da drin."

Blinzelnd versuche ich die Tränen los zu werden.

„Dein leben komplett auf null setzen? Du meinst ... eine Scheidung? Eine ... Trennung?"

Ich erkenne so gerade eben noch, wie er die Kiefer fest aufeinander beißt, ehe er sich die schneebedeckten Locken rauft, flucht und sich wegdreht. Der starke Schwindel kommt zurück. Und Harry ist nicht da, um mich zu halten. Ich schwanke von einer Seite zur anderen, strecke meine Hände noch nach ihm aus, aber er sieht es zu spät. Ich rutsche ab ... und falle Meter tief, fliege schwerelos, der eiskalte Wind peitscht mir wieder ins Gesicht, ehe ich auf der zum Glück noch nicht gefrorenen Wasseroberfläche aufschlage.

Benommen treibe ich im Eiswasser, spüre rein gar nichts mehr. Keinen Schmerz, kein leid, keinen Hass und keine Wut. Nur noch das schwache Licht des aufgehenden Mondes, der durch das Wasser bricht.

Captured Pt. 2 || L.S.Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt