22. Kapitel

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Verwirrt knie ich vor ihm nieder und nehme seine Hand. Es kommt mir beinahe so vor, als stehe er unter Drogen oder sowas. Warum ist er so ruhig? Freut er sich denn gar nicht mich zu sehen?

„Harry ... stimmt etwas mit ihm nicht?", wende ich mich an seine begleitende Krankenschwester, aber diese beißt sich kurz auf die Unterlippe und zieht ihren Arm von Harry's Ellbogen weg.

„Ich werde Sie beide mal für einen Moment allein lassen.", sagt sie vorsichtig an ihn gewendet, was mich nur noch panischer macht. Als sie Tür Glastür zum Gebäude zugeschoben hat, nehme ich die Sonnenbrille an den bügeln und ziehe sie langsam von Harry's Augen weg. Sie sind geschlossen.

„Harry! Verdammt, rede mit mir!"

Verzweifelt packe ich seine Hände, doch ihm kullert lediglich eine dicke Träne die Wange hinab. Er presst die Lippen aufeinander und scheint mit sich zu kämpfen. Dann öffnet er blinzelnd die Augen.

In der Sekunde, in der meine Augen auf seine treffen, rutscht mir mein armes Herz in die Hose. Nein. Noch weiter. Unten aus meinem Hosenbein kullert es über den Kiesweg, hinein in den Gullideckel und wird von einem gruseligen Clown gefressen. Genau so fühlt es sich momentan in mir an. Alles zerfällt.

Das fade eisblau, das sich wie ein Schleier über seine Iris und die Pupillen gelegt hat, versetzen mir einen derartigen Schock, dass ich kein einziges Wort mehr rausbringe. Tastend fasst Harry nach meinem Gesicht und wischt über die Tränen darauf.

„Ich hab das alles nie gewollt.", sagt er zittrig und zieht seine Hand wieder zurück.

„Harry ... ich ... ich ..."

Es hat keinen Sinn. Ich kann keinen klaren Satz auf die Beine stellen.

„Es ist schon okay."

„Nein, ist es nicht Harry! Es ist rein gar nicht okay!", schreie ich und wir sind beide von meinem plötzlichen Ausbruch überrascht.

„Nein, du hast recht!", erwidert er ebenso laut und setzt sich auf. Dass seine Augen ins leere starren und doch tränengefüllt und wild sind verletzt mich mehr, als ich beschreiben kann. „Aber was soll ich denn tun?! Sauer sein auf dich? Und dann?!"

Erschöpft und verzweifelt lege ich meine Stirn in seinem Schiff und kralle mich an seinen Hüften fest. Seine großen Handflächen umfassen meinen Kopf und er streichelt sanft durch meine Haare.

„Weißt du ... Vermutlich ist es besser so. Die Welt um mich herum ist so finster, es ist wahrscheinlich das, was ich verdient habe. Ich habe es gewissermaßen provoziert. All die Lügen, all die Probleme, die ich in dein Leben geschleppt habe."

Ich lausche ihm, unterbreche ihn aber nicht.

„Dass du letztendlich geblieben bist, ist so viel mehr wert als mein Augenlicht. Ohne dich will ich diese Welt nicht sehen. Ich glaube es war Schicksal. So kann ich dich nicht verlassen. Ich hätte darüber nicht nachdenken sollen. Das ist meine Bestrafung."

„Harry, du hat mir das Leben gerettet.", werde ich ein.

„Du meines auch."

„Das ist aber nicht das selbe. Du hast eine Entscheidung getroffen, innerhalb von nicht mal zwei Sekunden. Du bist gesprungen, Harry."

Er hebt meinen Kopf an und ich sehe auf.

„Diese Entscheidung habe ich getroffen, als ich dich das erste mal gesehen habe, Louis."

Schluchzend sehe ich ihn genau an. Ich kann ihn Mustern, jedes Detail betrachten, ohne davon von ihm erwischt zu werden.

„Küss mich bitte ..." haucht er und umfasst wieder mein Gesicht. Ohne zu zögern komme ich von den Knien auf meine wackeligen Beine und beuge mich über ihn, hebe sein Kinn ein Stück an und lege meine Lippen auf seine. Ich kann förmlich spüren, wie er unter mir zu schmelzen beginnt. Seine Hände ziehen mich gierig auf seinen Schoß, auf den ich mich breitbeinig sinken lasse.

„Ich habe deine Nähe so sehr vermisst, Lou ...", flüstert seine raue Stimme an meine Lippen und ich nicke.

„Ich auch. Ist dir schon mal aufgefallen, dass wir seit einer Ewigkeit keinen Sex mehr gehabt haben?"

Angesichts der aktuellen Situation ist das womöglich das Letzte, woran er denkt. Dachte ich zumindest.

„Ich habe gerade genau das selbe gedacht. Ich hoffe wir kommen bald hier raus." Sein Grinsen ist vielversprechend.

„Warum so lange warten?", necke ich ihn und streiche über die sichtbaren Bartstoppeln an seinem Kinn.

Wir bleiben noch eine Weile so sitzen, bis ihm die Beine durch mein Gewicht einschlafen. Die Arme in einander verhakt gehen wir zurück in das Gebäude, um uns etwas aufzuwärmen und ich stelle klar, dass Harry und ich ab sofort ein Doppelzimmer bekommen. Ganz hinten in der Ecke. Alleine.

Captured Pt. 2 || L.S.Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt