Part 7

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Ihre Sicht

Ich schluckte. Ich hatte keine Ahnung von mir. Ich wusste nicht, wie ich eigentlich so drauf war, aber dass ich so eine Raserin sein sollte, konnte ich ehrlich gesagt nicht glauben. In meinem Kopf fing es an zu arbeiten. Ich kramte in meinem Gedächtnis. Vielleicht war da doch noch irgendwas. Irgendwo vielleicht ein kleiner Fetzen Erinnerung. Welchen Grund könnte ich gehabt haben, um so schnell zu fahren?

"Es tut mir furchtbar leid. Das war wirklich keine Absicht", riss Marco mich aus meinen Gedanken und sah mich schuldig an.

Gequält lächelte ich ihn an. "Schon gut, es ist nicht deine Schuld. Du weißt nicht, wieso ich so schnell gefahren bin, oder?"

Er schüttelte den Kopf, zuckte dann mit den Schultern. "Nein, ich dachte, dass du einfach eine typische Raserin wärst."

Ich seufzte enttäuscht. Es war seltsam so viel mehr zu wissen. Natürlich war es irgendwie gut, aber es ergab noch nicht wirklich Sinn. Ich konnte mir beim besten Willen nicht vorstellen eine typische Raserin zu sein! Das konnte nicht Ich sein. "Kannst du mir noch mehr Fragen beantworten?"

Erneut zuckte Marco mit den Schultern. "Ich weiß nicht. Kommt drauf an, was du wissen willst."

Ich fühlte mich irgendwie unwohl. Jedoch wusste ich nicht, woran es lag. Ich schaute Marco an. Er saß zusammengesunken in seinem Rollstuhl, schaute betroffen auf seine Hände, welche an seinem Shirt fummelten.

"Dir muss das wirklich nicht leid tun. Es war doch nicht deine Schuld", versuchte ich ihm klar zu machen. Wieder zuckte er nur mit den Schultern. Es machte mich etwas wütend. Ich beließ es nun einfach dabei. "Wie lange war ich nicht bei Bewusstsein?"

Stark stieß er Luft aus, setzte eine nachdenkliche Miene auf und schaute an mir vorbei aus dem Fenster. "Ich bin mir nicht sicher. Aber ich glaube es waren so um die 19 Tage.."

Ich schnappte nach Luft. Kurz nach dem Unfall sah ich wahrscheinlich noch schlimmer aus als ich es jetzt sowieso schon tat und jeden Tag war irgendeine Krankenschwester bei mir und konnte mich in diesem schrecklichen Zustand sehen. Genauso wie meine Eltern. Vielleicht kamen auch mal Freunde vorbei oder sonst jemand aus meiner Familie? Vielleicht sogar mein Freund? Wenn ich denn einen hatte. Wenn ich überhaupt irgendjemanden hatte! Ich wusste es aber nicht. Ich wusste gar nichts! Und zum ersten Mal nervte es mich so richtig, dass ich nichts wusste. Mir stiegen Tränen in die Augen. Nur mit viel Mühe konnte ich sie zurück halten, aber schluchzte einmal laut auf. Geschockt sah Marco zu mir auf.

"Ich merke gerade, wie beschissen es ist, nichts zu wissen..!" Ich seufzte. "Wie lange warst du denn weg? Hast du dein Gedächtnis verloren? Weißt du, wer deine Eltern sind? Weißt du, wer du bist?" Ruckartig stoppte ich. Ich hatte übertrieben. Ich wollte ihn doch nicht so mit Fragen löchern. " 'Tschuldigung", murmelte ich verlegen.

"Ach was, schon okay. Und um deine Fragen zu beantworten, ich hab' mein Gedächtnis nicht verloren. Ich war eine ganze Woche bewusstlos, aber musste dann natürlich noch hier bleiben. Ich erinnere mich an alles. Ich weiß sogar noch, was du anhattest, als ich in dich reingefahren bin."

Ich grinste schüchtern. Ich mochte ihn. Er schien wirklich nett zu sein und er bereute es, mir sowas angetan zu haben, obwohl es gar nicht seine Schuld war.

Es blieb eine Weile still. Ich überlegte mir noch weitere Fragen, auf die er eine Antwort haben könnte. "Darf ich dich noch etwas fragen?" Marco nickte nur. "Weißt du, ob ich Besuch hatte, ob irgendjemand bei mir war?"

"Nein, tut mir leid, das weiß ich nicht. Ich war nicht hier. Das hab ich mich nicht getraut. Möglicherweise wäre ich dann auf deine Eltern gestoßen, und wenn sie mich hier gesehen hätten, hätten sie mich bestimmt wieder weggeschickt und vielleicht sogar noch beleidigt! Schließlich bin ich der Typ, der ihre Tochter beinahe umgebracht hätte. Tut mir leid."

"Muss es nicht, ist schon okay. Ich frage nur, weil... na ja, als ich zum ersten Mal hier aufgewacht bin, saßen zwei Personen dort." Ich zeigte auf den Stuhl. "Eine Frau und ein Mann und die Frau hat mich immer Liebling genannt. Beide haben geweint und sich so gefreut, als ich aufgewacht bin, aber ich kenne sie nicht. Na ja ich kenne ja niemanden.."

"Vielleicht waren es ja deine Eltern. Sind sie in den letzten Tagen noch einmal hier gewesen?"

Ich schüttelte traurig den Kopf und sah zur Decke, um die Tränen zurück zu halten. Niemand war gekommen, mich hatte niemand besucht. Hatte ich überhaupt Freunde oder eine Familie, die mich liebte? Vielleicht war ich auch eine totale Niete und die Menschen, die mich kannten, waren froh, dass sie mich für eine Zeit los waren. Wahrscheinlich war ich es gar nicht wert. Wozu denn aus dem Haus gehen? Wozu für mich? Anscheinend war ich eine grausame Person, mit der niemand etwas zu tun haben wollte. Wahrscheinlich war ich extra so schnell gefahren. Vielleicht wollte ich mich umbringen, weil mich keiner mochte.

Zum ersten Mal wollte ich Gewissheit, zum ersten Mal in meinem neuen Leben wollte ich wissen, wer ich damals war. Ich wollte meine Freunde kennen lernen, wenn ich welche hatte. Ich wollte wissen, welche Träume ich hatte, was ich mal werden wollte. Ich wollte in diesem Moment einfach alles wissen.

"Weinst du?", riss Marco mich aus meinen Gedanken.

Ich wischte mir über meine nassen Wangen. "Wieso hat mich keiner besucht? Das tut man doch, wenn eine bekannte Person im Krankenhaus liegt, oder nicht? Hattest du Besuch?"

"Vielleicht waren sie da, als du noch im Koma lagst.." Er ignorierte meine letzte Frage.

"Aber..- Und wenn es meine Eltern dort bei dem Stuhl waren, müsste ich sie doch öfter hier gesehen haben. Eltern müssen sich doch für ihre Kinder interessieren, für sie da sein, oder nicht?!"

"Sie kommen bestimmt nochmal wieder. Vielleicht sogar gleich." Marco lächelte mich aufmunternd an. "Du bist auf jeden Fall nicht alleine. Wenn was ist, kannst du gerne zu mir kommen. Mein Zimmer ist rechts den Gang runter, 237 . Ich hoffe es macht dir nichts aus, aber ich würde jetzt auch wieder gehen. Bin etwas müde vom Training." 

Ich hatte mich mittlerweile etwas beruhigt und nickte nun.

"Gute Nacht, Luisa", grinste er, drehte sich mit dem Rollstuhl und fuhr langsam davon.

"Gute Nacht, Marco", murmelte ich noch, bevor ich hörte, wie die Tür ins Schloss fiel.

Ich stellte das Tablett mit dem angebissenen Brot zur Seite. Hunger hatte ich jetzt definitv nicht mehr. Ich musste an ihn denken, obwohl er gerade mal eine Minute aus dem Raum war. Seine blonden, perfekten Haaren, seine weiche Stimme. In meinem Bauch begann es zu kribbeln, als ich an das freche Grinsen dachte. Er schien zu dem ein wirklich netter Mann zu sein. Aber ich sollte erstmal aufhören über Marco nach zu denken, denn erstmal musste ich mein Leben wieder auf die Reihe bekommen. Ich wusste schließlich immer noch nicht alles. Möglicherweise konnten mir meine Eltern mehr sagen, falls sie hier nochmal vorbei schauen sollten.

Ich lehnte mich zurück, schaltete die kleine Nachttischlampe aus und war nach wenigen Minuten auch schon im Land der Träume.

Ohne Vergangenheit durchs Leben (Marco Reus FF)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt