Part 18

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Versetzt euch einmal in meine Situation.

Stellt euch vor, ihr wacht in einem Krankenhaus auf ohne zu wissen, warum. Und stellt euch einmal vor, ihr erinnert euch an nichts. Ihr habt keine Ahnung, wie euer Name lautet, ihr wisst nicht, wo ihr wohnt, ihr erinnert euch an nichts.

Im Laufe der Tage lernt ihr einen netten jungen Mann kennen und ihr vertraut ihm. Warum? Er weiß, warum ihr hier seid. Er hat es miterlebt. Dieser Mann weiß mehr über euch als ihr selbst. Gruselig, oder nicht? Stellt euch vor, ihr unternehmt viel mit diesem Mann. Vom ersten Moment an spürt ihr eine gewisse Spannung zwischen dem Mann und euch. Plötzlich ist er euch nicht mehr egal und es tut euch unendlich leid, dass ihr ihn bei dem Unfall so schwer verletzt habt, dass er in diesem Krankenhaus festsitzt. Aber andererseits findet ihr den Verlauf eures Lebens fantastisch! Wäre der Unfall nicht gewesen, hättet ihr diesen Mann nie kennen gelernt.

Ihr habt keine Ahnung,was Liebe ist. Schließlich könnt ihr euch nicht daran erinnern, je geliebt zu haben. Aber ihr spürt, dass ihr mehr für diesen Mann empfindet, als einfache Freundschaft. Es ihm sagen? Um Gottes Willen! Erst letztens haben euch eure Eltern besucht und diese sagten euch, dass ihr in einer festen Beziehung steckt! Oh je oh je wie sehr ihr davor Angst hattet. Und jetzt stimmt es auch noch. Ihr wollt es euch nicht eingestehen, aber euer Herz hat schon nach dem ersten Zusammentreffen mit dem Mann aus dem Krankenhaus beschlossen, sich für ihn zu entscheiden.

Beim ersten Treffen mit eurem festen Freund kämpft euer Verstand gegen euer Herz. 'Verlieb dich wieder in diesen Typen! Er ist dein Freund, du kannst ihm doch nicht einfach so das Herz brechen!' Aber euer Herz hört nicht auf euren Verstand. Es denkt durchgehend an den anderen Mann. Wie schön wäre es, wenn er hier wäre!

Wie verabredet, besucht ihr diesen Mann am nächsten Tag in seinem Zimmer, um ihm vom vergangenen Abend Bericht zu erstatten. So wie man das eben unter Freunden macht, obwohl euer Herz will, dass da mehr ist.

Ooh.. und wie es blutet, als ihr den Raum betretet und seht, wie eine andere Frau so vertraut mit ihm umgeht. Sie umfasst sein Handgelenk, streichelt ihm über den Arm. Wie neidisch ihr auf sie seid! Der Mann erlöst euch und erzählt, es sei seine Schwester. Kurzzeitig entspannt ihr euch, aber dann beginnt euer Gehrin zu arbeiten, wie schon oft in den vergangenen Wochen. 'Das soll seine Schwester sein? Nie im Leben!' Und das schmerzliche Gefühl in der Brust lässt nicht mehr los.

Heute ist euer letzter Tag im Krankenhaus. 'Endlich weg!' würden andere denken, aber ihr wollt nicht weg, denn hier hattet ihr alles, was ihr braucht. Freunde! Mehr ist gar nicht nötig.

Und all die Rituale, die ihr mit diesem Mann geteilt habt, wie zum Beispiel zusammen zu frühstücken oder gemeinsam zur Physio zu gehen, sind futsch. Sie werden nie wieder stattfinden und den netten jungen Mann, der sich in dieser langen Zeit hier zu eurem aller besten Freund entwickelt hat, werdet ihr wahrscheinlich nie wieder sehen. Es fühlt sich an, als würde man euch das Herz aus der Brust reißen und drauf treten, es zerfetzen und durch die Luft werfen. Obwohl... Nein, das beschreibt es nicht mal annähernd. Diesen Mann nie wieder zu sehen, zerbricht euch im Ganzen. Es zerstört euch, ihr zweifelt an Allem.

Eure Eltern haben euch zu sich nach Hause gebracht. Eigentlich habt ihr eine eigene Wohnung, aber sie wollten euch nicht gleich ins kalte Wasser schmeißen. Das Haus eurer Eltern ist groß. Natürlich. Euer Vater ist ein großartiger, angesehener Arzt mit vielen Auszeichnungen.

Euer Zimmer ist der Traum aller Frauen! Ein Kleiderschrank so groß wie eine Wohnung! Dazu natürlich begehbar. Schuhe? Meine Güte, es sind über fünfzig Paare im Schuhschrank. T-Shirts, Pullover und Tops können zigmal mit hunderten von Hosen kombiniert werden! Auf eurer Matratze fühlt ihr euch wie auf einer Wolke. Ihr studiert Medizin, und wenn alles glatt läuft, werdet ihr die Stelle eures Vaters übernehmen, sobald er in Rente geht. Hört sich das nicht nach einem wunderbaren, erfüllten Leben an? Es könnte perfekt sein! Aber das ist es nicht, denn da fehlt jemand. Jemand, der euer Leben komplett machen könnte, doch ihr musstet ihn im Krankenhaus zurücklassen. Und deswegen setzt ihr, seit dem ersten Tag im Haus eurer Eltern, keinen Fuß mehr vor die Tür. Sich bewegen? Nein, das tut in der Brust weh. Essen? Auch nicht, ihr würdet sowieso nichts runter bekommen. Reden? Keine Ahnung, ob ihr das überhaupt noch könnt.

Ohne Vergangenheit durchs Leben (Marco Reus FF)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt