13. Er ist weg ...

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Vorsichtig klopfe ich an meine Zimmertür. Keine Reaktion. Vorsichtig öffne ich die Tür und gehe zu dem Bett, in welchem Jian liegt und gleichmäßig atmet. Kein Wunder, immerhin ist es gerade erst um fünf. Das ich wach bin liegt vermutlich auch nur an dem schlechten Gewissen. Unsicher rüttle ich an der Schulter des Schlafenden und langsam flattern seine Augenlider und er dreht sich zu mir. Fragend sieht er mich aus seinen verweinten Augen an, was mir einen kurzen Stich versetzt. Seufzend setze ich mich neben ihn und falte meine Hände in meinem Schoß: "Das gestern tut mir leid." Kurz herrscht Schweigen, ehe ich mich dazu durch ringe weiter zu reden: "Wieso hast du gestern so extrem darauf reagiert, dass ich etwas mit Jae unternommen habe? Ich weiß ja, dass ihr momentan im Streit seid und du verletzt bist, aber da war noch irgendwas anderes in deinen Augen. Also, was ist los?" "Ich will nicht darüber reden. Wieso bist du überhaupt hier? Du hasst mich genauso sehr wie alle anderen auch...", murrt er und sein Gesicht ist eine steinerne, kalte Maske. "Ich habe gehört, was du meinen Eltern erzählt hast und ich könnte dich niemals hassen. Du bist mir schon ans Herz gewachsen. Und den anderen schon lange. Der Kaugummi hat mich gestern öfters gefragt, ob er nicht endlich mit dir reden kann oder wie es dir geht. Minz und Min machen sich auch Sorgen. Taeho und Jeup sehen mich auch immer besorgt an und wollen dich endlich wieder dabei haben.", erkläre ich leise. Doch er schnaubt nur abfällig: "Was interessiere ich dich überhaupt noch?" "Jian, du bist mein Freund. Wieso sollte ich mich also nicht für dich interessieren?" "Gestern hat es dich doch auch einen Dreck gekümmert, wie es mir geht.", seine Stimme trieft vor Trauer. "Ji jetzt erzähl mir doch bitte, was los ist.", bettle ich schon fast.

"Nein! Verdammt, Sang! Lass mich doch einfach in Ruhe!", schreit er leicht verzweifelt. "Ich möchte dir doch nur helfen."

Wir starren uns an und jetzt erst fällt mir auf, wie unendlich tief seine braunen Seelenspiegel sind und hätte er den Kopf nicht weggedreht, hätte ich mich in ihnen verloren. "Mir helfen? Das kann wohl keiner mehr.", verbissen schlägt er die Decke zurück und geht zu meiner Kleiderecke. Perplex folge ich ihm: "Bleib liegen. Du musst dich noch ausruhen." Ich packe ihn am Arm und will ihn zurück ziehen, doch er reißt sich los und streift sich die Uniform über. Er wird doch nicht etwa in die Schule gehen? Das wird ihm den Rest geben und er muss womöglich tatsächlich in eine psychiatrische Anstalt eingewiesen werden. "Sag deinen Eltern 'Danke' von mir. Ich gehe.", grummelt er und nimmt sich seine Tasche, ehe er sich umdreht. "Nein. Du bleibst hier. Wir haben gesagt wir kümmern uns um dich und das tun wir auch!", bestimme ich. Jedoch bewirkt das nur, dass er mich wütend ansieht: "Lass mich in Ruhe. Es ist nicht dein Problem." Schon ist er aus dem Raum verschwunden. Doch sofort bin ich bei ihm und ziehe ihn an meine Brust: "Ji, sag mir doch einfach, was los ist! Ich kann dir helfen."

Vorsichtig streiche ich ihm mit dem Daumen über die Wange. Er schüttelt seinen Kopf und lächelt traurig, während wieder mehr Tränen aus seinem Augenwinkel laufen: "Du hast doch schon ihn. Mich brauchst du nicht."

Plötzlich liegen seine Lippen auf meinen und geschockt reiße ich die Augen auf. Er schmeckt nach Zucker und Zusatzstoffen in Süßigkeiten. Doch gerade, als ich anfange den Kuss zu genießen, beendet er ihn und rennt aus dem Haus. "Ji! Bleib hier!", rufe ich ihm hinterher und schlüpfe schnell in meine Schuhe. "Lass mich in Ruhe, Sang!" "Du hast mich geküsst, nicht andersherum! Erkläre mir das!", aufgebracht reiße ich ihn an der Jacke zurück. "Was gibt es denn da zu erklären?! Vergiss es einfach, das hatte nichts zu bedeuten! Ich weiß selbst nicht, was ich mir dabei gedacht habe! Aber allein der Gedanke, dass du mit diesem Mund vor ein paar Stunden Ungjae berührt hast, ist widerlich! Verpiss dich einfach oder schmeiß dich ihm gleich an den Hals, wie die anderen billigen Flittchen! Für mich interessierst du dich ja eh nicht, genauso wie alle anderen auch!" Das hat gesessen. Ein Tritt in die Magengrube, ein Schlag ins Gesicht und ein Stich ins Herz. Ich kann mich nicht bewegen und starre ihm den Tränen nah hinterher.

Er stand am Fenster und hat zugesehen. Deshalb ist er gestern Abend zusammen gebrochen.

Aber wieso nennt er mich Flittchen? Wieso hat mir der Kuss mit ihm besser gefallen, als der mit Jae? Nannte er mich Flittchen, weil ich beide in einer relativ kurzen Zeitspanne geküsst habe und mich gegen keinen von Beiden gewehrt habe? Aber wieso sagt Ji, dass der Kuss nichts zu bedeuten hatte? Ich habe es doch gespürt. Da war etwas. Es hat ihm etwas bedeutet, auch, wenn es irgendwie etwas von einem Abschied hatte. Ich meine, da waren so viele Gefühl drin, so viel Trauer, Schmerz und der Versuch irgendwo Halt zu finden, den er anscheinend aber nicht gefunden hat. Als ob seine Hoffnung erloschen ist.

Aufgelöst gehe ich wieder rein und lasse mich auf mein Bett fallen. An der Stelle, wo vorher Ji lag, rolle ich mich zusammen. Sie ist immer noch etwas warm und ich kuschle mich in die Decke. Sein Geruch umhüllt mich und tröstet etwas, doch reißt er auch die Wunde weiter auf, die noch nicht einmal zu heilen begonnen hat. Was war das für ein Schmerz in seinen Augen und wieso redet er nicht mit mir? Aber was mich noch mehr verwirrt: Ich fühle mich hingezogen zu Jae, Ji und G. Ungjae mit seiner etwas kindlichen und fröhlichen Art, dem Dauergrinsen und diesem Funkeln in den Augen. Ji mit seiner irgendwie müden, genervten und etwas verpeilten Art, aber auch dieses verletzte Innere von ihm und dieses anhängliche. Und G ist so geheimnisvoll, aber er bringt mich mit seinen Komplimenten in Verlegenheit, bringt mich zum lachen und seine Stimme ist einfach ... wow.

Ich fasse also zusammen: Ich stehe auf drei Typen, die verdammt unterschiedlich und doch an manchen Punkten ähnlich sind. Was also bedeutet, dass ich nicht so hetero bin, wie ich bisher dachte, oder? Wusste meine Mum das irgendwie? Hat sie es geahnt? Aber woher?

Nachdenklich sehe ich auf den Wecker. Um sechs. Schwerfällig erhebe ich mich, ziehe meine Klamotten für die Schule an und schlürfe dorthin. Meinen Eltern gehe ich aus dem Weg und auch mein Handy habe ich zu Hause gelassen.

"Sang, ist alles gut?", besorgt kommt Taeho zu mir, welchen ich jedoch mit einer kurzen Geste und einem falschen Lächeln beruhigen kann. Langsam lasse ich mich auf den Stuhl sinken und der Kaugummi lässt sich auf den Platz von Ji fallen: "Du kannst mir nicht vormachen, dass alles gut ist. Gestern warst du so fröhlich und jetzt? Erzähl mir, was los ist." Seufzend lehne ich mich an ihn und mitfühlend streicht er mir durch die Haare: "Jian ist weg. Wir haben uns gestritten." "Wieso?" "Ich weiß es nicht. Er wollte nicht mit mir darüber reden. Warum? Bis gestern war doch alles okay..." "Lass ihm etwas Zeit sich zu beruhigen. Das wird schon noch. Seine Gedanken sind aufgewühlt und er braucht Ruhe, um über alles nachzudenken. Schreib ihm einfach ab und an und zeige ihm, dass er dir nicht egal ist und du dir Sorgen machst. Egal, ob es nur ums Wetter oder sonstiges geht. Aber du musst trotzdem versuchen für ihn da zu sein. Das hilft nicht nur ihm, sondern auch dir", eine Träne rollt über meine Wange, doch wird sie sofort weggewischt, "Lass uns Samstag zu dem Auftritt von G/. gehen. Vielleicht bringt uns das ja auf andere Gedanken." Lächelnd stimme ich zu und lehne mich erschöpft weiter an ihn, bis der Unterricht beginnt.

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