10. Kapitel

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«Wir sind zusammengekommen, tief traurig, erschüttert, nachdenklich. Müssen Abschied nehmen und einer Realität ins Auge sehen, der wir nicht entkommen. Wir sind fassungslos und können diese Tragödie noch nicht wirklich begreifen. In unterschiedlicher Distanz und Nähe lernten wir die beiden tapferen Männer kennen und Lieben. Von einer großen Gemeinschaft wurden sie geschätzt und geachtet, waren zwei wertvolle Begleiter auf dem Weg von vielen. Doch nun wurden uns zwei Brüder in ihrer Blütezeit genommen, ohne Rücksicht auf den Schmerz und den Verlust ihrer selbst und den Überlebenden ....» Die Trauerfeier der beiden Gefallenen aus der Wohngemeinschaft, hatte ganz Siena erschüttert und verwundert. Der große Friedhof war gefühlt mit Bewohnern der Stadt, die Anteilnahme an der Trauer der Angehörige nahm. Links von mir stand Alberto. Rechts von mir Piero. Alberto streichelte meine Hand. Im Laufe des Begräbnisses griff auch Piero nach meiner Hand. Ich wusste nicht was ich fühlen sollte. Trauer, wegen der Toten. Oder Glück, wegen Alberto und Piero. Aber was sagten mir meine Gefühle gegenüber Piero oder Alberto? Ich fühlte mich in die Enge getrieben. Von meinen eigenen Gefühlen.

Eia wartete vor dem Friedhof auf mich. Ihre schwarzen Schuppen stachen ausnahmsweise nicht aus der Menschenmenge hervor. Alberto zupfte an dem feinen, schwarzen Spitzenärmel meines eng anliegenden Kleides. «Sehen wir uns später in meinem Zimmer?» fragte er. Ich strich mir die Tränen von der Wange. «Ich werde vorbei kommen.» versprach ich. Mit einem sanften Händedruck verabschiedete er sich. Piero, der die ganze Situation wohl beobachtet hatte, sah ihm eifersüchtig hinterher. Bevor er etwas sagen konnte zog ich ihn an mich und umarmte ihn. Ich wusste, dass es ihn mitnahm. Auch wenn es nach außen hin nicht so wirkte. Im Moment wollte ich nicht reden. Piero spürte das und erwiderte wortlos meine Umarmung. Dabei wanderte seine Hand meinen Rücken runter zu meiner Hüfte. Es war mir unangenehm, da ich dabei an Alberto denken musste. Ich löste mich von ihm. «Ich brauche Zeit für mich. Alleine», sagte ich zu Piero. Leicht enttäuscht nickte Piero. «Wenn du meinst.»

Ich schlenderte mit Eia über die vertrocknete Wiese des Friedhofs. Sie hatte schon alles von den Ereignissen im Wohnheim erzählt bekommen und wusste wie ich mich dabei gefühlt habe. Doch wir gingen noch einmal das ganze Geschehen durch. Es war schön jemanden zu haben der einen von Grund auf verstand und meine Gefühle besser kannte als sonst jemand. Dennoch schweiften meine Gedanken wieder ab. Irgendwann verfiel ich in schweigen. Natürlich wusste der Drache woran ich dachte. Aber sie ließ mir den Freiraum. «Lass uns fliegen», schlug sie vor. Ohne zu zögern stimmte ich zu. Jede Art der Ablenkung war mir gerade Recht.

Wir kreisten zu Anfang nur über die Dächer Siena's und der umliegenden Weingüter. Der Wind strich mir durch die Haare und vereinzelt verirrte sich eine Strähne in meinem Gesicht. So unsicher wie ich auf dem Drachenrücken war, klammerte ich mich an einem Stachel auf Eia's Rücken fest. Ihre sanfte Stimme sagte mir in meinem Kopf: «Vertraue deinen Fähigkeiten als Drachenreiterin. Du kannst mehr als du glaubst.» Ich schloss die Augen und atmete einmal tief durch. Dann faste ich allen meine Mut zusammen , ließ den Stachel los und breitete die Arme aus, sodass ich den Gegenwind zwischen den Fingern spüren konnte. Das Kleid von der Beerdigung flatterte im Wind. An meinen Unterschenkeln spürte ich die rauen Schuppen am Rumpf des Drachen. Die Muskulatur war ausgeprägt und erzitterte bei jedem Flügelschlag. Bei jedem kleinsten Schwenker zuckte ich unwillkürlich zusammen, aus Angst herunter zufallen. Nach einigen Minuten war mein ganzer Körper vollkommen entspannt. Ich öffnete die Augen. Siena war nun nicht mehr als ein Flecken Erde unter uns. Wolken schwebten um uns herum. Kalte Luft peitschte mir entgegen. Doch das machte mir nichts aus. Eia spürte meine Entspanntheit und wurde merklich gelassener. Ein leises Lachen kitzelte meinen Geist. Schon sanken wir in die Tiefe. Ich schrie so laut ich konnte. Mein Bauch kribbelte vor lauter Aufregung. Auch Eia stieß ein Markerschütterndes Gebrüll aus. Dampf kam aus ihren Nüstern. Warme Luft schlug mir kurz darauf entgegen. Einige hundert Meter über den Dächern von Siena schoss der Drache wieder in die Höhe und glitt im Segelflug über die Stadt und die Weinberge hinweg. Von dem atemberaubenden Sturzflug saß ich schweißgebadet und keuchend auf dem Rücken des Tieres. Es war so ein beeindruckender Flug gewesen, dass ich grinsen musste. Endlich strömte wieder Freude und das Gefühl von Glück durch mich hindurch. Eia brachte mich zurück zu meinem neuen Zuhause. Sie fand Unterschlupf in einem Anbau des Gebäudes der keinen Zweck mehr erfüllte. In Gedanken bedankte ich mich bei dem einzigartigen Flug und ging zu meinem Zimmer.

Ich ging die Seitentreppe hoch zu meinem Zimmer. Kurz bevor ich meine Tür öffnete fiel mir ein, dass ich Alberto versprochen hatte bei ihm vorbei zu kommen. Für einen kurzen Augenblick überlegte ich das Versprechen zu brechen, doch mein Verlangen nach Nähe siegte. Ich klopfte an die Tür. Sofort riss Alberto die Tür auf. «Ich habe schon auf dich gewartet», sagte er als er mich sah. Ich trat in sein Zimmer ein und sah mich um. Im wesentlichen unterschied es sich nicht von dem meinen. Es besaß ein geräumiges Bett, einen Schreibtisch, eine Kommode und eine Waschschale. Allerdings war mein Raum nebenan größer. "Du wolltest mich noch sehen?", fragte ich. Er nickte und sagte: "Wie geht es dir?" Schulterzuckend sah ich ihn an. "Das wäre alles nie passiert, wenn ich nie hier her gekommen wäre", sagte ich monoton. Alberto kam auf mich zu und streckte seine Arme nach mir aus. Langsam überwand ich die letzen Zentimeter zwischen uns und ließ mich von ihm umarmen. Sanft streichelte er über die Haare. "Nichts davon ist deine Schuld. Das hätte überall und jedem passieren können", versuchte er mich zu beruhigen, doch warme Tränen kullerten über meine Wangen. "Aber es ist mir passiert. Wegen mir sind zwei Männer gestorben...", schluchzte ich. Beruhigend drückte er mich an sich. "Alles gut..", flüsterte er. Mit verquollenen Augen sah ich ihn an. "Ich glaube ich gehe langsam schlafen", sagte ich schlicht. Verständnisvoll nickte er und ließ seine Arme sinken. Alberto begleitete mich in mein Zimmer. 

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